So nicht, Europa!
modernen Bürgergesellschaft die demokratische Legitimation eine Rolle für Akzeptanz und damit für Macht. Naturgemäß
ist die Akzeptanz der politischen Herrschaftsform der EU im Vergleich zur Akzeptanz der politischen Praxis in den Nationalstaaten
begrenzt. Deshalb ist auch die politische Vertiefung, die die Brüsseler Instanz zu leisten imstande ist, begrenzt. Wenn sich
die EU dieses Akzeptanzlimit nicht eingesteht, droht sie, wie andere Reiche vor ihr, an Überdehnung zu scheitern. Nicht an
Überdehnung nach außen allerdings.Sondern an einem
Overstretch
nach innen, an einem zu penetranten Lenken ihrer Subjekte, die im Begriff sind, sich immer mehr als Objekte von Brüsseler
Diktaten zu fühlen. Die wahre Stärke des Imperiums EU läge anderswo. Nicht in der Freiheitsbegrenzung. Sondern in der Freiheitsermöglichung.
63 Prozent der Deutschen glaubten laut einer Eurobarometer-Umfrage 2008, die E U-Erweiterung mache Europa als Ganzes weniger wohlhabend. 22 Was für ein Irrtum. Gerade die Deutschen sind es, deren Wirtschaft profitiert, wenn sich die Absatzmärkte ausdehnen. Und
genau das tun sie durch die Erweiterung des Binnenmarktes. Jeder fünfte Job in der Bundesrepublik hängt am Export von Autos,
Maschinen oder Chemikalien, und die wichtigsten Handelspartner bleiben die europäischen Nachbarn. Der größte ist Frankreich,
dorthin gehen 10 Prozent aller deutschen Exporte. In die Vereinigten Staaten, zum Vergleich, sind es nur 6,6 Prozent. Selbst ins kleine Italien führt Deutschland mehr Güter aus (6 Prozent) als nach China (4,6 Prozent). 23
Das Schöne am Freihandel ist aber nicht nur, dass er den Wohlstand aller Beteiligten vergrößert, sondern auch demokratische
Entwicklungen und internationale Partnerschaften stimuliert (vgl. das China-Kapitel, S. 94). »Der Freihandel ist Gottes Form der Diplomatie«, dichtete prophetisch der britische Politiker Richard Cobden 1857. »Es
gibt keinen anderen sicheren Weg, Völker in den Banden des Friedens zu vereinen.« Genau dies besagt die Gründungsphilosophie
der EU. Wirtschaftlich eng miteinander verflochtene Gesellschaften werden mit großer Gewissheit keinen Krieg gegeneinander führen.
Und noch einen Effekt bewirken die Bande des Handels: Laut der Sonnentau-These (gemeint ist die fleischfressende Pflanze)
von Walter Russell Mead zieht ökonomische Macht Partner an, während politische Macht Gegnerschaften provoziert: »Ein lieblicher
Geruch lockt Insekten zu dessen Quelle, einem klebrigen Sekret. Sobald das Opfer mit dem Sekret in Berührung kommt, klebt
es fest, und es gibt kein Entkommen mehr. Das ist das Leimrutenprinzip, und nach diesem Leimrutenprinzip funktioniert auch
ökonomische Macht.« 24
An den Verlockungen des größten Marktes der Welt führt kein Weg vorbei. Der Preis dafür ist allerdings, dass Importeure die
Brüsseler Standards anerkennen. Deshalb zeigt die EU ihre stärkste Seite als normatives Wirtschaftsimperium. Aufgrund ihrer
Kaufkraftkann sie
de facto
anderen Staaten, die es bisher gewohnt waren, ihre eigenen Normen festzulegen, neue Vorgaben machen.
Chinesische Fabrikanten müssen sich an die europäischen Umweltschutzvorschriften über Chemikalien halten, wenn sie ihre Produkte
hierzulande absetzen wollen. Dafür gibt es die so genannte REAC H-Verordnung (Registration, Evaluation, Authorisation and Restriction of Chemicals), die schärfste der Welt. Selbst in amerikanischen
Hühnerfarmen führen Brüsseler Normierungen zu einem Umdenken. In den Vereinigten Staaten darf künstlich geweißtes Hähnchenfleisch
verkauft werden. In der EU nicht. Die amerikanischen Züchter erwägen deshalb mittlerweile, auf das gewohnte Verfahren zu verzichten,
Federvieh durch Chlorzugaben zu bleichen. Bisweilen fährt die EU sogar wie ein Eisbrecher zwischen amerikanische Konzerne,
wenn diese im Begriff sind, sich zu kartellartigen Monolithen zu entwickeln. 2007 zwangen E U-Kommission und Europäischer Gerichtshof den Riesen Microsoft, seine Macht zu teilen. Sie urteilten, es sei grob wettbewerbswidrig, für
Konkurrenzsoftware das Funktionieren auf Microsoft-Betriebssystemen unmöglich zu machen, indem anderen Firmen die dafür erforderlichen
technischen Codes vorenthalten werden.
»Wo Kommerz ist, herrschen gesittete Manieren und Moral«, schrieb schon Montesquieu. Die immense Kraft der Europäischen Union
liegt also nicht in der Lebensregulierung. Sondern in der Macht,
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