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So nicht, Europa!

Titel: So nicht, Europa! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Bittner
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»ein Leben im Wartezimmer« anbieten kann?
    Nein, sagt Krastev, und sieht die Lösung in der Beeinflussung der öffentlichen Meinung. Die Kommission müsse nach einem Beitritt
     nur nicht aufhören, Druck auszuüben. Korrupte Regierungen würden dann in einem »Brüssel-Sandwich« landen. Der Druck von oben
     und durch eine zornige Bevölkerung von unten würde sie schließlich zermürben. 21 Beispiele, die gegen diese Theorie sprechen, liefert freilich die jüngere Vergangenheit. In Griechenland demonstrierte die
     Bevölkerung exakt gegen die Staatsreformen, die Brüssel anmahnte. Der Druck aus Brüssel und der Druck der Straße waren nicht
     gleichgerichtet, sondern gegenläufig. Die Regierung litt, sicher. Aber genauso litt die europäische Instanz. Es gab Demonstranten
     in Athen, die E U-Flaggen verbrannten. Die blaue Macht gilt eben nicht überall als Kraft des Guten.
     
    Problem Nummer 2: Die Grenzen der Identität
    Natürlich werden Griechen, Iren oder Polen niemals über Brüssel herfallen wie einstmals Vandalen, Franken und Goten über Rom.
     Sie müssen es aber auch nicht. Der Nachteil der Gewaltfreiheit des Imperiums EU besteht darin, dass ein solches Imperium auch
     nicht durch Gewalt bekämpft zu werden braucht. Um den postmodernen Bund zu schwächen, reicht schon innere Abkehr aus. Dänemark
     und Schweden zum Beispiel nehmen weder am Euro noch an der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik teil, obwohl
     sie es könnten. Großbritannien und Polen erkennen die Grundrechtecharta, die dem Lissabon-Vertrag angehängt ist, nicht als
     verbindlich an, ebenso wenig will sich London einer verstärkten Rechtsharmonisierung unterwerfen.
    Solche Integrationsverweigerung ist ohne schlechtes Gewissen zu haben. Weil es keinen E U-Patriotismus gibt, gibt es auch keinen E U-Verrat . Anders als Rom ist die EU ein Imperium ohne Bürgeridentität oder Botschaft. Sie hat kein Sendungsbewusstsein und keine verbindende
     Vision. Das fehlende Gefühl vomeigenen Status und Wert trat besonders deutlich zutage, als sich die EU daran machte, ihre neuen Oberhäupter zu wählen. Anfang
     2008 gab der ehemalige britische Premier Tony Blair zu verstehen, dass er für das neue Amt des Europäischen Ratspräsidenten
     zur Verfügung stehe. Sofort brandete ihm eine Welle empörter Ablehnung entgegen. Ein Kriegstreiber wie er, ereiferten sich
     nicht nur Europas Sozialdemokraten, könne unmöglich die Friedensmacht EU repräsentieren. Da war sie wieder, die Negativabgrenzung
     von der dunklen Macht Amerika. Die vergebliche Frage lautet aber: Welches positive Selbstbild hat die EU denn zu bieten?
    Der Demontage Blairs folgte nicht etwa die Suche nach möglichst aussagekräftigen Repräsentanten, sondern ein kleinlicher Proporz-Zank
     um die Spitzenämter Europas. In der EU herrschten damals 17 konservative Regierungschefs, 6 sozialdemokratische und 4 liberale.
     Nach einigem Geschacher insbesondere zwischen den deutschen, französischen und italienischen Staatskanzleien wurde Herman
     Van Rompuy als Ratspräsident ausgekungelt.
    Zu der Frage, wer Europas erster Außenminister werden soll, lieferte das (über diesen Posten mitentscheidende) Europaparlament
     die wichtigste Vorgabe. Es sähe ja wohl überhaupt nicht gut aus, gab sein Präsident Jerzy Buzek den Staatschefs zu verstehen,
     wenn für keines der beiden neuen Ämter eine Frau gefunden würde. Die Vizechefin der Grünen-Fraktionen, Rebecca Harms, warnte
     davor, in Europa »Verhältnisse wie in Saudi-Arabien« zu schaffen. Da die Kandidatin aus arithmetischen Gründen auch noch Sozialdemokratin
     sein musste, wurde die Wahl eng. So ward am Ende die Britin Catherine Ashton gekürt. Mit der neuen Doppelspitze, so viel lässt
     sich sagen, vergewisserte Europa sich und den Rest der Welt immerhin darüber, dass es weder eine Kriegsmacht ist noch einem
     saudi-arabischen Gesellschaftsbild frönt.
     
    Es gehört zur steten Klage über Europa, dass es keine »Seele« besitze, dass es nicht biete, was Max Weber eine »emotionale
     Vergemeinschaftung« nannte. Worin die gemeinsame Identität der E U-Europäer bestehen könnte, ist Gegenstand so vieler Untersuchungen, Dissertationen und Seminare, dass sie sich kaum noch zählen lassen.
     Zu einem greifbaren Ergebnis kam es nie. Vielleicht wäre es ehrlicher festzustellen, dass die EU weder eine Seele besitzen
     noch eine Gefühlsgemeinschaft darstellen muss, um zu funktionieren. Es ist schlicht falsch, so zu tun, als

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