So nicht, Europa!
möglichst vielen Menschen eine möglichst große Selbstbestimmtheit
zu garantieren. Als wirtschaftlicher Riese und politischer Zwerg wird die EU immer wieder etikettiert. In Bezug auf manche
außenpolitische Nachlässigkeit mag das stimmen, da erscheint sie manchmal sogar als Wurm. Falsch ist nur der kategorische
Gegensatz zwischen wirtschaftlicher und politischer Macht, der mit diesem Vergleich insinuiert wird. Einen Raum freier Marktwirtschaft
zu schaffen und zu erhalten, ist eine sehr bedeutende politische Leistung.
Aber kennt der Glaube an die normative Kraft des Marktes nicht auch Enttäuschungen? Was, um im Bild von der Leimrute zu bleiben,
wenn die Wirtschaftsmacht EU ihrerseits trickreichen Anwärterstaaten auf den Leim geht? Griechenland, Bulgarien und Rumänien
haben, wie bereits beschrieben, dankbar die Subventionen der EU abgegriffen, das Versprechen auf bessere Regierungsführung
haben sie nicht eingelöst. Auch in den östlichenE U-Staaten , die bereits seit 2004 zum Club gehören, hat sich keineswegs alles zum Besseren gewendet. »In Sachen Korruption sind fast
in allen 10 E U-Ländern , die 2004 der EU beigetreten sind, massive Rückschritte zu verzeichnen«, fasst die Leiterin des Brüsseler Büros von Transparency
International, Jana Mittermaier, entsprechende Umfrageergebnisse ihrer Organisation zusammen. »Das liegt daran, dass nach
den Beitritten einfach niemand mehr genau hingeschaut hat, was dort bei der Korruptionsbekämpfung passiert und ob die während
den Beitrittsverhandlungen initiierten Antikorruptionsreformen weitergeführt werden.« Die Macht des großen Transformators
Brüssel hat also Grenzen.
Ist die EU womöglich naiv, wenn sie glaubt, sie könnte Kandidatenländer wie Kroatien oder später einmal Serbien und das Kosovo
in hehre Marktwirtschaften nach nordeuropäischem Modell verwandeln? Die Hartnäckigkeit, mit der sich auf dem Balkan Gefälligkeitsgesellschaften
und an Rassismus grenzender Nationalismus halten, scheint sich der merkantilistischen Zivilisationslogik zu entziehen, von
der die EU glaubte, sie würde sich quasi automatisch in ihre Peripherie ausbreiten.
Nach acht Jahren als U N-Protektorat übernahm 2008 die EU die Aufsicht über das Kosovo. »Rechtsstaatlichkeitsmission« (EU- LEX ) heißt das Unternehmen Balkan seither bürokratisch trocken. Tatsächlich handelt es sich um die bislang größte Auslandsmission
der EU. 1800 zivile Beamte, zum großen Teil Polizisten, aber auch Richter, Staatsanwälte und Zöllner sollen das Land von der
U N-Übergangsverwaltung hin zu einem eigenständig funktionierenden Staat begleiten. Doch mit welchem Aussicht auf Erfolg? 22 Milliarden Dollar haben die Vereinten Nationen schon in die kriegsgebeutelte Provinz gepumpt, um die Wirtschaft anzuwerfen
und Verwaltungsstrukuren zu schaffen. Doch statt Partnerschaft und Wirtschaft blühen weiterhin vor allem Nepotismus, Korruption
und organisiertes Verbrechen. 40 Prozent der Kosovaren lebten noch 2008 unter der Armutsgrenze, weitere 15 Prozent galten als extrem arm. Das Bruttoinlandsprodukt des Kosovo ist so groß wie das von Ägypten, die Bevölkerung ist zur
Hälfte jünger als 25 Jahre und zum nahezu gleichen Anteil arbeitslos. »Das letzte afrikanische Land Europas« nennt das ›Handelsblatt‹ die junge
Republik. 25
Welchen Beistand kann die EU realistischerweise leisten gegenüber willigen, aber offenkundig unreifen Aspiranten? Fragtman dortige Politiker, ist die Antwort klar: Wir brauchen die EU, um uns zu reformieren. Wer aber hindert die Regierungen
daran, ihre Gesetze aus eigener Kraft dem
acquis communautaire
, dem Europäischen Gemeinschaftsrecht, anzupassen? Genauso tun es schließlich, wenngleich in bescheidenem Maße, Amerikaner,
Chinesen und Inder. E U-Nachbarstaaten könnten viel tun, um sich zu europäisieren, sich per Osmose zu verwestlichen.
Umgekehrt würde Europas Selbstbewusstsein steigen, wenn es die Erwartungen an seine Wirkungen senkte. Die EU sollte sich weniger
ein Zivilisierungsverein verstehen denn als eine, wenn die Paradoxie erlaubt ist, regionale Welthandelsorganisation. An dem
höheren Anspruch, ihren Bewohnern das weltwunderbarste Wohlfühlgehege zu schaffen, droht sie zu scheitern. Denn sie funktioniert
nach dem Prinzip des Völkerrechts. Dieses lebt davon, dass alle davon ausgehen, es sei
nützlich
, sich daran zu halten. Wenn die EU mehr will, wird sie sich bei der
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