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So nicht, Europa!

Titel: So nicht, Europa! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Bittner
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nächsten Erweiterung verheben. Der Fall Türkei zeigt
     schon jetzt eindrücklich, was passiert, wenn die EU unbedingt eine politische Metaebene bilden will statt sich mit den freiheitsfördernden
     Effekten einer Handelsplattform zufrieden zu geben.
     
    Es ist unstrittig, dass die Türkei schwere Mängel bei der Einhaltung der Menschenrechte aufweist. Aber hätten die früheren
     Führer der Europäischen Gemeinschaft derart legalistisch gedacht wie die Köpfe der Europäischen Union heute, die Nationen
     Europas wären vielleicht nie zu der Einheit verschmolzen, die sie heute darstellen. Warum schreckt die EU heute zurück vor
     einem großen strategischen Sprung?
    Vor zweihundert Jahren noch wäre es einem Bürger des Habsburger Reiches undenkbar erschienen, eines Tages eine politische
     Entität mit Preußen oder Britannien zu bilden, genauso wie einem Kommunisten in Bulgarien und einem Liberalen in Dänemark
     dieser Gedanken noch vor 50   Jahren völlig abwegig vorgekommen wäre. Nicht jeder konnte in seiner Wahrnehmung so hellsichtig sein wie ein Voltaire, der
     im sechsten seiner ›Philosophi schen Briefe‹ das auffällig tolerante Treiben beschrieb, das im 18.   Jahrhundert an der Londoner Börse herrschte: »Es ist dies ein respektablerer Ort als viele Gerichtssäle. Man sieht Vertreter
     jeder Nation versammelt, zum Wohle der Menscheit. Der Jude, der Mohammedaner und der Christ handeln hier miteinander, alsteilten sie dieselbe Religion, und die Bezeichnung ›Ungläubige‹ reservieren sie für jene, die bankrott gehen (…). Am Ende
     dieser friedlichen und freien Versammlung gehen die einen zur Synagoge, die anderen eins trinken; dieser lässt sich in einem
     großen Bottich im Namen des Vaters vom Sohne für den Heiligen Geist taufen, jener lässt seinem Sohn die Vorhaut beschneiden
     und über das Kind hebräische Wörter murmeln, die er überhaupt nicht versteht; die anderen gehen in ihre Kirche, um mit dem
     Hut auf dem Kopf die Inspiration Gottes zu erwarten, und alle sind zufrieden.«
    Und im 21.   Jahrhundert soll es nicht möglich sein, das angebliche Schisma zwischen dem christlich-abendländischen und dem islamisch-osmanischen
     Reich zu überwinden? In Wien mögen einmal die Heere des Abend- und des Morgenlandes aufeinandergeprallt sein und in Berlin
     diejenigen von Kapitalismus und Kommunismus. Heute verlaufen die Gräben der Menschheit entlang anderer Lagerzugehörigkeiten.
     Seit bis auf wenige Reservate in Lateinamerika und Asien die Marktwirtschaft den globalen Systemsieg davongetragen hat, geht
     es um eine nuanciertere Identitätsfrage. Es geht um liberalen Kapitalismus à la USA/EU versus autoritären Kapitalismus à la
     Russland und China. Es geht darum, ob der Staat glaubt, die Bürger vor sich oder sich vor den Bürgern schützen zu müssen.
     Ob Regierungen sich als Garanten freier individueller Entfaltung verstehen oder als politische Dirigenten des Einzelnen, daran
     entscheidet sich heute, welche Gemeinwesen als »westlich« im klassischen Sinne gelten können und welche nicht. Gemessen an
     dieser Testfrage, müsste die EU keine Scheu haben, die Türkei als Geistesbruder zu begreifen. Ebenso wenig die Staaten des
     westlichen Balkans.
    Engstirnigkeit ist der Tod jedes Imperiums. Doch statt sich zu öffnen, steht sich die EU mit veralteten Denkmustern selbst
     im Weg. In einer Welt, in der Interessenssphären nicht mehr hart aufeinanderprallen, sondern sich immer sanfter überlagern,
     bietet die EU ein digitales Schema an. Staaten treten ihr entweder bei oder nicht. Die Option Vollmitgliedschaft oder keine
     Mitgliedschaft kann nicht die Antwort sein auf strategische Herausforderungen des dritten Jahrtausends. Die Brüsseler Nachbarschaftsprogramme
     sind keine Hilfe, weil sie aus Sicht der Ausgesperrten den Kontrast zur vollwertigen Clubmitgliedschaft noch verstärken. Für
     die Abgelehnten sind sie ein Trostpflaster, für die Ablehner ein Feigenblatt.
    Ronald D.   Asmus, ehemaliger für Europa zuständiger Staatssekretär im amerikanischen Außenministerium, erinnerte Brüssels politische
     Klasse Anfang 2008 daran, dass Europa der Nato dankbar sein müsse. Die Militärallianz sei nach dem Fall des Eisernen Vorhangs
     nicht davor zurückgeschreckt, ihr Einflussgebiet bis an die Grenze Russland zu erweitern, indem sie Länder wie die Ukraine,
     Georgien, Aserbaidschan oder Turkmenistan in ein »Partnerschaft für den Frieden«-Programm einbezogen habe. Dieser mutige

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