So nicht, Europa!
Vorwärtsschritt
habe diese Länder im westlichen Lager verankert. Wenn es den Führern Europas heute noch einmal gelänge, »neue Demokratien
an die EU und die Nato zu binden, werden sie in zehn Jahren auf eine neue Landkarte Europas blicken können und dankbar sein,
dass sie zu dem Zeitpunkt gehandelt haben, zu dem sie gehandelt haben«. 26
Damit ihr Einfluss auf die Peripherie nicht schwindet, insbesondere um die östlichen Nachbarn nicht an den autoritären Kapitalismus
zu verlieren, müsste die Europäische Union ihren Instrumentenkasten neu füllen. Zwischen Partnerschaftsabkommen und Vollmitgliedschaft
ließen sich ohne Weiteres Zwischenformen finden, welche die Aspiranten nicht frustieren und für die EU kein großes finanzielles
Risiko mit sich brächten. Eine Freihandelszone, die bewusst keinen Wert auf bestehende politische Makel einzelner Mitglieder
legt, wäre eine Option. Ein europäischer Wirtschaftsraum oder eine privilegierte Partnerschaft, wie Teile der CDU sie vorschlagen,
wäre ein anderer. In ihm könnten Teile des
acquis
gelten und immer weitere Teile übernommen werden, ohne dass sich die betreffenden Staaten an der Rechtssetzung beteiligen
müssten.
Die Produkte der Brüsseler Institutionen in Form von Handelsnormen sind bewiesenermaßen attraktiv auch für diejenigen, die
nicht an ihrem Zustandekommen mitwirken. Vielleicht haben E U-Neuzugänge ja gar keine große Lust, bei der Gesetzgebung mitzumischen? Die Masse des europäischen Rechts ist ohnehin gesetzt und wirksam.
Warum sich also noch am nervigen Klein-Klein in der Brüsseler Normenschmiede beteiligen?
Die Welt wartet nicht auf Europa – diesen Satz hört man immer wieder in den Führungsetagen Brüssels. Aber wo bitte bleiben
die Konsequenzen aus dieser Einsicht? Von 2005 bis 2008 haben sich die Lebensmittelpreise auf der Welt verdoppelt. 27 Das bedeuteteinerseits, dass es geradezu ein strategischer Imperativ sein muss, ein Flächenland wie die Ukraine mit seinen fruchtbaren
Böden als Handelspartner zu gewinnen und ihm den europäischen Marktzugang zu eröffnen. Es bedeutet andererseits, dass neue
E U-Mit glieder keineswegs in den zweifelhaften Genuss von E U-Agrar hilfen kommen müssten. Auch Gelder zum Infrastrukturaufbau könnten deutlich gedrosselt werden oder in Form von Krediten gewährt
werden.
Die Welt wartet nicht auf Europa – wie richtig. Man könnte präziser werden und sagen: Die Welt ist längst dabei, sich ohne
die EU zu EUisieren. Europa zieht aus dieser Entwicklung nicht die richtigen Schlussfolgerungen. Während seine Bedeutung auf
der Weltbühne sinkt, ist es vor allem damit beschäftigt, sich für unverzichtbar zu halten.
Der überwältigende Vorteil der EU, glauben ihre Lobredner, bestehe darin, dass sie kein Staat sei, sondern ein Netz. Denn
Staaten verhielten sich auf dem Gebiet der internationalen Beziehung wie Kugeln auf einem Billardtisch. Sie stießen einander
ab, wenn sie kollidierten. Die EU hingegen ziehe aufgrund ihres Netzcharakters jeden, der sich mit ihr anlege, »in einen Prozess«
hinein. 28 Dieses illustrative Bild von der dämpfenden Wirkung eines Verbundpartners lässt allerdings außer Acht, dass die EU keineswegs
das einzige Netzwerk des Planeten ist. Europa hat es ständig mit anderen Netzen zu tun – oder ist sogar Teil von ihnen.
Das E U-Erfolgspatent hat sich längst über Europa hinaus ausgebreitet. In vielen Bereichen ist die Globalisierung recht eigentlich nichts anderes
als die EUisierung der Welt. In Asien heißt sie Asean, in Afrika Afrikanische Union, in Lateinamerika Mercusor, in der globalen
Dimension WTO, UN und G20. Das Monnet-Wort von vor 50 Jahren, wonach die Länder Europas zu klein sind, um ihren Völkern den Wohlstand zu sichern, gilt längst für den gesamten Globus.
Amerika und China sind heute wirtschaftlich in einer Weise miteinander verwoben, dass ein Krieg zwischen ihnen ebenso selbstzerstörerisch
und undenkbar erscheint wie einer zwischen den E U-Nachbarn Deutschland und Frankreich. Im Herbst 2009 berichtet ein sichtbar amüsierter Kommissionspräsident José Barroso auf einer
Brüsseler Konferenz, er habe bei den Verhandlungen der G20 den Eindruck gewonnen, »dass es da immer mehr zugeht wie im Europäischen
Rat«.
Der amerikanische Journalist Thomas L. Friedman hat die ökonomisch-politische Einebnung der Welt in der lebensnahen »Theorie der Konfliktvermeidung durch den
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