So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!: Tagebuch einer Krebserkrankung (German Edition)
Wunde geredet oder habe sie simuliert, indem ich irgendwelche Leute auf der Bühne oder vor der Kamera mit roter Farbe beschmissen habe. Diesmal ist der Kontakt authentisch gewesen. Und der ist hart, auch weil einem so eine Krankheit ein völlig anderesVerständnis von Zeit abverlangt.
Deswegen habe ich heute eine gute Entscheidung getroffen, glaube ich. Gestern hatte ich der Intendantin der Deutschen Oper eine E-Mail geschrieben und ihr vorgeschlagen, die Johanna um zwei, drei Monate zu verschieben. Da hat sie geantwortet, dass das leider nicht gehe. Mir fiel fast ein weiterer Stein vom Herzen. Morgen Mittag kommt zwar noch mal Carl und wird mir erklären, was sie da jetzt vorhaben, aber für mich ist klar, dass ich die Oper absagen werde. Ich mache die Oper nicht. Mich jetzt mit einer Chemo auf dem Kopf in dieses Feuer, in diese Zwangsjacke einer Institution zu werfen, ist absolut unnötig. Nachher würde ich mir nur Vorwürfe machen, die Zeit nicht sinnvoller genutzt zu haben. Denn die heilige Johanna als Tumor – vielleicht ist es so, vielleicht ist es auch nur ein müder Witz.Vielleicht wäre das nur eine müde Bebilderung statt einer interessanten Übermalung.
Und die Narbe geht spazieren im Wald.
Jetzt habe ich also keine große Insel mehr, dafür aber viele kleine Inseln, und die müssen gepflegt werden. Ich kann das Hörspiel für den WDR fertig machen.Vielleicht frage ich mal beim WDR nach, ob ich auch etwas über die Chemotherapie machen kann. Ich kann mich mit den Aufzeichnungen hier beschäftigen, mal hören, was ich da alles gedacht habe. Und ich kann vielleicht wirklich mal ein, zwei Wochen aufs Land fahren, vielleicht kommen ein paar Freunde zu Besuch und dann filmen wir im Wald und auf der Wiese, machen Fotos, was weiß ich. Mir ist schon ein toller Arbeitstitel eingefallen: »Ich gehe mit meiner Narbe spazieren im Wald«. Damit kehre ich ins Bild zurück. Ich habe etwas verloren, jetzt kann ich mit einer Narbe wieder ins Bild zurückkehren. Und die Narbe geht spazieren im Wald. Und dann machen wir Fotos, von mir und meinen Freunden, filmen mich ohne Haare, mit der Narbe auf dem Rücken, vielleicht auch nackt, ohne Scham, aber mit einem gewissen Pathos, was weiß ich. Und dann gibt’s Kondensstreifen am Himmel, und irgendwer sagt: »Reißverschluss, jemand macht den Himmel auf.« Das hat mir vorhin am Telefon mein Freund Jörg erzählt: Seine kleine Tochter hat heute Morgen »Reißverschluss« gerufen, als sie Kondensstreifen von einem Flugzeug am Himmel gesehen hat. Als würde jemand den Himmel aufmachen. Das ist doch großartig.
Was jetzt ansteht, ist eine Aufarbeitung, eine Aufbereitung. Man muss den Weltuntergang transformieren; dazu gehört die Ruhe, der Gedanke, aber man muss auch etwas tun dürfen. Nur muss das, was man tut, zur Situation passen. Die Oper will ja nur, dass Christoph Schlingensief irgendwelche Bilderscheiße zur Musik baut. Da würde ich mich verleugnen, da würde nichts sacken, da würde auch nichts transformiert, da würde gar nichts passieren, weil ich nicht genug Zeit hätte.
Wenn ich meine, ich muss zwei Monate durcharbeiten, dann mache ich das. Etwas tun zu dürfen ist schon wichtig. Aber den Rhythmus muss ich selbst bestimmen.Wenn ich den Rhythmus nicht selbst bestimme, dann werde ich leiden, dann werde ich nicht positiv denken, dann werde ich mich nur bestrafen. Genau!
Außerdem gibt es ja im Herbst als neue Möglichkeit die RuhrTriennale. Da kann ich machen, was ich will. Die lassen mir total freie Hand. Aber bis dahin werde ich Kraft sammeln müssen. Die bekomme ich nur, wenn ich selbst den Rhythmus bestimme, wenn ich Gedanken formuliere und in Bilder transformiere, wenn ich mich an meinem Freund Beuys weiter abarbeite, wenn ich mich mit meinen Lieblingen ausspreche, wenn ich meine Altäre aufbaue, wenn ich den Leuten, die ich verehre, huldige. Das ist der Moment, der wichtig ist: Ich huldige anderen. Ich huldige nicht nur mir.
Es ist etwas Positives in der Luft. Und es muss auch frische Luft rein, das merke ich. Die kommt gerade, die Säfte steigen. Es geht so langsam wieder los. Und es wird noch gigantische Sachen geben. Ich weiß das, ich spüre das. Es wird gigantische Sachen geben, weil ich stolz auf mich bin. Ich musste etwas sehr Hartes lernen, was zwar viele, viele andere Leute auch lernen mussten, aber was auch viele, viele Leute niemals lernen dürfen. Das muss man auch mal so sehen. Nicht als Auszeichnung, aber vielleicht als ein wenn auch
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