So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!: Tagebuch einer Krebserkrankung (German Edition)
voller Schrecken gelesen, dass Sie mal irgendwann gesagt haben sollen, nach Bayreuth bekämen Sie Krebs. Ich bin ja nicht abergläubisch, aber sagen Sie so was nie wieder. Sagen Sie so etwas niemals wieder!«
Das heißt, es war wirklich die Bayreuth-Zeit, in der der Krebs gewachsen ist. Aber das ist jetzt erst einmal gar nicht wichtig.Wichtig ist, dass der Krebs nichts mit dem letzten Jahr zu tun hat, nichts mit dem Tod meinesVaters, oder mit irgendwelchen negativen Strahlen, nichts mit einer Überforderung. Diese ganzen Schwätzer mit ihrem »Ja, das darf man alles nicht machen, der ist selbst schuld« können nach Hause gehen. Es gab keine Überforderung. Alle Menschen haben Krebszellen in sich, und ob das jetzt ausbricht oder nicht, ist Glückssache. Ich hatte eben kein Glück. Aber ich kann mich mit meinem Vater versöhnen, auch mit meiner Mutter – der ganze Familienwahnsinn hat damit nichts zu tun. Dass der Krebs schon länger in mir drin ist, darüber bin ich gerade wahnsinnig froh. Das heißt, dass ich meinen Vater endlich wieder gernhaben darf. Mein Papa ist wieder dabei, er ist nicht schuld gewesen, es gibt keine Schuld, auch keine eigene.
Das ist natürlich merkwürdig. Ich könnte ja jetzt verzweifeln, toben und schreien: Mein Gott, warum bin ich nicht früher zum Arzt gegangen? Man hätte dann doch schon was sehen können!
Tja, hat man eben nicht.
Nach der Verkündigung habe ich mich gleich angezogen und bin mit Aino 25 Minuten zur nächsten Pizzeria geschlufft. Wirklich wahr, das habe ich geschafft: Ich bin zu Fuß zur Pizzeria gelaufen, 25 Minuten lang. An jedem dritten Baum musste ich kurz stehen bleiben und verschnaufen, weil die Narbe beim Laufen nach vorne ausstrahlt und es dann ziemlich wehtut. Da habe ich einfach meinen Rücken an die Bäume gepresst, und der Schmerz hat nachgelassen, das war toll. Aber das Schönste war: Ich habe heute auch Bäume gestreichelt. Ich habe sie berührt, die Blätter gestreichelt, meinen Kopf hinten an der Rinde langsam hin und her gerieben, meine Füße im Gras gespürt. Es war einfach wunderschön. Das hätte ich mir früher nie zu sagen erlaubt. Aber ich bin eben jetzt so. Ich bin jetzt auch ein bisschen esoterisch.
Jedenfalls war das ein Jahrhundertausflug für einen Spaghettiteller. Das Essen war eigentlich auch schön, aber leider war ich nicht gut genug aufgelegt, um es zu genießen. Ich kam mir ein bisschen vor wie ein griesgrämiger alter Mann, wie ein angeschlagener Löwe, der sich sagt: Ach Alter, geh doch in die Wüste, lass die Gazelle noch ein bisschen rumhüpfen. Aino muss da echt viel ertragen, aber wir werden das jetzt zusammen hinkriegen.
Ich will nach vorne schauen. Ich will nach vorne denken.
Im Augenblick bin ich ganz sicher, dass ich das alles schaffe. Ich werde gesund. Und vielleicht versuchen Aino und ich noch ein Kind zu kriegen. Mal sehen. Ich will nach vorne schauen. Ich will vor allen Dingen nach vorne denken. Und ich bin stolz: nicht stolz auf diese Krankheit, aber stolz auf mich. Darauf, dass ich die OP nicht vor lauter Angst verschoben habe, darauf, dass ich mich hier mit allem auseinandersetze. Mit Leben und Tod. Das habe ich zwar schon immer getan, aber jetzt ist es anders. Jetzt habe ich tatsächlich eine Art Weltuntergang erlebt, bei dem einige kleine Gebäude stehen geblieben sind. Der Rest ist Wiederaufbau, und den beginne ich gerade. Ich baue meine Stadt wieder auf, aber ich baue sie neu auf, da passen manche Gebäude nicht mehr rein, weil manche Leute in meiner Stadt nicht mehr wohnen sollen. Denen sage ich dann: »Ich laufe langsam, das ist für mich wichtig, weil ich sonst nicht denken kann. Und Sie laufen mir viel zu schnell.« Wenn die mich dann scheiße finden, dann muss mir das egal sein. Diese Freiheit, diesen Stolz zu spüren, muss ich lernen, auch wenn es manchmal noch wehtut.
Ich habe die Wunde der Welt berührt.
Es müssen jetzt vor allem Steine vom Herzen fallen. Mein Herz muss das Gefühl bekommen, dass es sich mal wieder dehnen darf. Es darf sich wieder geliebter fühlen, sich befreit fühlen, weil es Frieden mit meinem Vater hat, weil kein Arzt kommt, der noch meinen Darm testen oder irgendwie im Bauch rumfummeln will, weil es keine Oper mehr gibt,
die mich erdrückt. Und es werden viele neue Kräfte entstehen, weil ich etwas erlebt habe, was nicht jeder erlebt. Ich habe die Wunde der Welt berührt, die Wunde des Leben-Wollens und Sterben-Müssens. Bis vor Kurzem habe ich nur über die
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