So soll er sterben
nicht gut genug, um das beurteilen zu können.«
»Aber ich kenne den Schlag.«
Rebus schloss die Augen, rieb sich die Nase und dachte: Genau das hätte ich vor kurzem auch noch gesagt, vor diesem Fall. »Wir bewegen uns schon wieder auf dünnem Eis, Shiv. Sie sollten schlafen gehen. Ich rufe Sie morgen früh an.«
»Sie glauben, ich werde meine Meinung ändern, stimmt’s?«
»Das bleibt Ihnen überlassen.«
»Ich kann Ihnen versichern, dass das nicht passieren wird.«
»Ihr gutes Recht. Wir sprechen uns morgen.«
Sie schwieg eine Weile, sodass Rebus schon vermutete, sie sei eingeschlafen. Aber dann: »Was hören Sie da?«
»Dick Gaughan.«
»Klingt, als wäre er wütend.«
»Ist sein Stil.« Rebus hatte den Zettel mit den Daten der Taschenlampe herausgeholt.
»Typisch schottisch womöglich?«
»Womöglich.«
»Dann also gute Nacht, John.«
»Moment mal. Wenn Sie nicht angerufen haben, um sich zu entschuldigen, warum dann?«
»Ich wollte nicht, dass irgendwas zwischen uns steht.«
»Und steht was zwischen uns?«
»Ich hoffe nicht.«
»Und Sie wollten sich nicht einfach nur davon überzeugen, dass ich sicher und allein in meinem Bettchen liege?«
»Das habe ich überhört.«
»Gute Nacht, Shiv. Schlafen Sie gut.«
Er legte auf, lehnte den Kopf zurück und schloss wieder die Augen.
Keine Freunde… nur Kumpel.
Sechster und siebter Tag
Samstag/Sonntag
20
Als Allererstes am Samstagmorgen wählte er Siobhans Nummer. Ihr Anrufbeantworter sprang an, und er hinterließ eine kurze Nachricht –»Ich bin’s, John, wollte nur mein Versprechen von letzter Nacht einlösen… wir hören voneinander«–, dann versuchte er es auf ihrem Handy und konnte auch da nur auf die Mailbox sprechen.
Nach dem Frühstück durchwühlte er den Flurschrank und die Kartons unter dem Bett und tauchte über und über mit Staub und Spinnweben bedeckt wieder auf, mehrere Packen Fotos an die Brust gedrückt. Er besaß nicht sehr viele Familienbilder, die meisten hatte seine Exfrau mitgenommen. Doch manche Fotos, wie die seiner Familie, seiner Mutter und seines Vaters, seiner Onkel und Tanten waren ihm geblieben. Aber auch davon gab es nicht allzu viele. Er vermutete, dass sich der Großteil entweder bei seinem Bruder befand oder im Lauf der Zeit verloren gegangen war. Vor Jahren hatte seine Tochter Sammy immer damit gespielt, hatte sie ausgiebig betrachtet und gefragt, wer wer sei. Rebus hatte gehofft, die Information auf der Fotorückseite zu finden, und schließlich mit den Achseln gezuckt.
Sein Großvater – der Vater seines Vaters – war aus Polen nach Schottland immigriert. Rebus wusste nicht, warum er sein Land verlassen hatte, da dies jedoch vor dem Aufkommen des Faschismus gewesen war, vermutete er wirtschaftliche Gründe dahinter. Er war jung und ledig gewesen und hatte ungefähr ein Jahr später eine Frau aus Fife geheiratet. Rebus wusste herzlich wenig über diesen Abschnitt seiner Familiengeschichte. Er erinnerte sich nicht, seinen Vater je danach gefragt zu haben. Und wenn doch, dann hatte dieser entweder nicht antworten wollen oder selbst nicht Bescheid gewusst. Vielleicht gab es Dinge, an die sein Großvater nicht hatte rühren und die er deshalb auch nicht hatte weitergeben wollen.
Rebus betrachtete das Foto in seiner Hand. Die Person auf dem Bild hielt er für seinen Großvater: ein Mann mittleren Alters, das schütter werdende schwarze Haar mit Pomade nach hinten gekämmt, ein schiefes Lächeln im Gesicht. Er trug seinen Sonntagsstaat. Es war eine Studioaufnahme, der gemalte Hintergrund zeigte Kornfelder und einen strahlend blauen Himmel. Auf der Rückseite stand die Adresse des Fotografen in Dunfermline. Rebus drehte das Foto erneut um. Er versuchte, ein Stück von sich selbst in seinem Großvater zu entdecken. Doch dieser Mann war ein Fremder. Die ganze Familiengeschichte eine Anhäufung von Fragen, die zu spät gestellt worden waren: Fotos ohne Namen, ohne Hinweis auf Jahr oder Ort. Unscharfe, lächelnde Münder, die verhärmten Gesichter von Arbeitern und ihren Familien. Rebus dachte an seine eigene Familie – oder was davon noch übrig war: Tochter Sammy, Bruder Michael. In unregelmäßigen Abständen rief er die beiden an, meist nachdem er ein Glas zu viel getrunken hatte. Vielleicht würde er später mit ihnen telefonieren, aber nur, wenn er zuvor nichts getrunken hatte.
»Ich weiß nichts über dich«, verkündete er dem Mann auf dem Foto. »Ich bin nicht einmal hundertprozentig sicher, dass
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