So soll er sterben
könnte Rebus dieses Angebot ablehnen, ohne unhöflich zu wirken?
5
»Nachdem ich das Skelett der Frau flüchtig untersucht habe, würde ich sagen, dass es ziemlich alt ist.«
»Flüchtig?«
Dr. Curt rutschte nervös auf seinem Stuhl herum. Sie saßen in seinem Büro in der medizinischen Fakultät, das sich in einem Innenhof hinter der McEwan Hall befand. Ab und zu – meist wenn Siobhan sich mit Rebus in einem Pub aufhielt – erinnerte er sie daran, dass viele bedeutende Gebäude Edinburghs, insbesondere die Usher Hall und die McEwan Hall, von Brauereidynastien errichtet worden waren, was ohne treue Bierkonsumenten wie ihn nicht möglich gewesen wäre.
»Flüchtig?«, wiederholte sie in die Stille hinein. Curt richtete übertrieben langsam einige der Stifte auf seinem Tisch gerade aus.
»Nun ja, ich kann bedauerlicherweise niemand um Hilfe bitten… Es ist ein Skelett, das früher einmal für die Ausbildung der Studenten benutzt wurde.«
»Aber es
ist
echt?«
»Unbedingt. In weniger komplizierten Zeiten als der gegenwärtigen war so etwas fester Bestandteil des Studiums.«
»Aber jetzt nicht mehr.«
Er schüttelte den Kopf. »Neue Techniken haben viele der alten Hilfsmittel ersetzt.« Er klang fast wehmütig.
»Demnach ist der Schädel unecht?« Sie meinte den auf grünem Filz in einem Kasten aus Glas und Holz liegenden Schädel auf dem Regal hinter ihm.
»Oh, der ist absolut authentisch. Er hat früher einmal dem Anatom Dr. Robert Knox gehört.«
»Dem Komplizen der Grabräuber?«
»Er hat ihnen nicht geholfen. Sie haben sein Leben zerstört.«
»Okay, echte Skelette wurden als Hilfsmittel beim Studium benutzt…« Siobhan erkannte, dass Curts Gedanken nun bei seinem Vorgänger weilten. »Vor wie viel Jahren wurde diese Praxis aufgegeben?«
»Vor fünf bis zehn Jahren, aber wir haben einige… Exemplare danach noch für eine Weile aufbewahrt.«
»Und gehörte zu diesen Exemplaren auch unser geheimnisvolles Frauenskelett?«
Curt öffnete den Mund, sagte aber nichts.
»Ein simples Ja oder Nein genügt mir«, insistierte Siobhan.
»Leider kann ich Ihnen mit keiner der beiden Antworten dienen. Ich bin mir einfach nicht ganz sicher.«
»Na gut. Wie wurden die überflüssigen Exemplare entsorgt?«
»Hören Sie, Siobhan…«
»Wo liegt das Problem, Herr Doktor?«
Er musterte sie, dann fällte er offenkundig eine Entscheidung, stützte die Ellbogen auf den Tisch und umklammerte die Hände. »Vor vier Jahren – wahrscheinlich erinnern Sie sich nicht daran – wurden mehrere Leichenteile in der Stadt gefunden.«
»Leichenteile?«
»Hier eine Hand, da ein Fuß… Wie sich herausstellte, waren sie in Formalin eingelegt gewesen.«
Siobhan nickte. »Ich erinnere mich, davon gehört zu haben.«
»Die Untersuchungen ergaben, dass sie von Studenten nur so zum Spaß aus einem der Labors gestohlen worden waren. Es wurde niemand überführt, aber wir bekamen viel unnötige Aufmerksamkeit von der Presse und auch Zurechtweisungen von etlichen hohen Tieren bis hin zum Vizekanzler.«
»Und was hat das mit unserer Sache zu tun?«
»Zwei Jahre vergingen, dann verschwand etwas aus dem Flur vor Professor Gates Büro.«
»Ein Frauenskelett?«
Curt nickte. »Ich gestehe, dass wir den Diebstahl vertuscht haben. Zu der Zeit trennten wir uns auch von einer Menge alter Hilfsmittel für den Unterricht.« Er schaute sie an und richtete den Blick dann wieder auf das Arrangement aus Stiften. »Es könnte durchaus sein, dass wir zu jener Zeit auch einige Plastikskelette weggeworfen haben.«
»Darunter auch eines von einem Kind?«
»Ja.«
»Sie haben mir erzählt, dass bei Ihnen nichts gestohlen wurde.« Er zuckte mit den Achseln. »Sie haben mich angelogen, Herr Doktor.«
»
Mea culpa
Siobhan.«
Sie überlegte einen Moment und rieb sich dabei den Nasenrücken. »So ganz verstehe ich es noch nicht. Wieso wurde dieses spezielle Frauenskelett als Ausstellungsstück behalten?«
»Das war die Entscheidung eines der Vorgänger von Professor Gates. Es ist das Skelett einer Frau namens Mag Lennox. Wissen Sie, wer das war?«
Siobhan schüttelte den Kopf. »Mag Lennox hat vor zweihundertfünfzig Jahren gelebt. Sie wurde beschuldigt, eine Hexe zu sein, und hingerichtet. Die Bürger der Stadt wollten nicht, dass sie hinterher begraben wurde. Offenbar hatte man Angst, sie würde eines Tages aus ihrem Sarg klettern. Man ließ die Leiche verwesen, und jeder, den es interessierte, konnte sie sich ansehen – wahrscheinlich, um
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