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So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

Titel: So sollst du schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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suchend zum Zug um. Sobald sie mich erspäht hatten, schienen sie zufrieden zu sein. Der Zug kroch im Schneckentempo dahin. Ich erhaschte den Blick eines Mädchens in meinem Alter. Sie lächelte mir traurig zu und winkte, ehe sie die Hände hob. Sie legte sie sich aufs Gesicht und betrachtete mich durch ihre gespreizten Finger, sorgsam darauf bedacht, dass ich sie nicht aus den Augen ließ. Und dann begann sie ihre Haut vom Gesicht abzuziehen. Nur dass sich darunter weder Blut noch von Adern durchzogenes Gewebe befanden. Stattdessen bestand ihr Gesicht aus Metall und Drähten, wie das Innenleben eines Fernsehers.
    Erschrocken sah ich die Leute um sie herum an, die alle dasselbe taten. Jeder Einzelne von ihnen zog sich die Haut vom Gesicht, unter der ein mechanischer Kopf zum Vorschein kam. In diesem Moment spürte ich eine feste, vertraute Hand, die sich um meine Schulter legte. Ich fuhr herum und sah Miss Fowler neben mir sitzen. Ihr Gesicht befand sich nur wenige Zentimeter von meinem, ihr langes Haar flatterte ihr offen ums Gesicht, während ihre Augäpfel in den Höhlen vor und zurück hüpften und ihre Zähne zu diesem festgefrorenen Grinsen entblößt waren.
    Mit einem Schrei fuhr ich hoch. Und das Schreckliche daran war – ich wusste, dass ich nur geträumt hatte, trotzdem roch ich das Dettol. Der ganze Waggon stank danach.
    Ich sah mich um. Alles sah genauso aus wie vorher. Ich saß auf demselben Platz, vor mir zog noch immer die französische Landschaft vorbei. Weit und breit war kein Dorf mit einem Marktplatz und Menschen zu sehen, die sich die Haut vom Gesicht zogen. Der Sitz neben mir war leer. Der Mann mit dem Regenmantel meines Vaters schlief.
    Ich streckte die Hand aus und berührte den Stoff dort, wo Miss Fowler gerade noch gesessen hatte. Mir ist klar, wie verrückt das klingt, aber als ich hinsah, konnte ich klar und deutlich das Wort »Teufel« im Muster des Stoffs erkennen.
    Erst als der Zug in den Bahnhof einfuhr, merkte ich, dass meine Tasche verschwunden war. Ich sah unter dem Sitz nach, suchte den Boden ab, doch sie war eindeutig weg.
    »Meine Tasche!«, rief ich und stand auf. »Meine Tasche! Jemand hat meine Tasche gestohlen!«
    Der Regenmantel-Mann schlug die Augen auf und zuckte die Achseln, und das alte Ehepaar musterte mich nur verwirrt, als ich durch den Waggon rannte und alles absuchte. »Meine Tasche! Meine Tasche!«, jammerte ich.
    Der Zug setzte sich in Bewegung. Ich musste hier raus. Bestimmt war der Dieb längst ausgestiegen.
    »Meine Tasche!«, schrie ich und sprang aus dem Waggon. »Hilfe! So hilf mir doch jemand!«
    Panik ergriff Besitz von mir. Das war eine Katastrophe. Lieber Gott, hilf mir, hilf mir doch. Aber da war niemand. Keine Menschenseele auf dem Bahnsteig; nur ein kleines Kind, das mich durch die Scheibe eines Waggons anstarrte. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Wieder einsteigen oder hierbleiben, verzweifelt und ohne meine Tasche, mitten auf dem Bahnsteig. Welche Wahl hatte ich schon? Schließlich konnte ich nicht zur Polizei gehen und sie als gestohlen melden. Nicht ich, selbst eine Mörderin und Diebin.
    Ich begann, vor dem Bahnhofseingang auf und ab zu gehen, zuerst in die eine, dann in die andere Richtung. Ich musste auf Lorrie Fischer hören, die mir sagte, ich solle mich beruhigen. Hör auf! Hör auf!, sagte sie.
    Hier stand ich also, irgendwo in der französischen Einöde, ohne Geld, ohne Fahrkarte, ohne Pass, ohne irgendetwas. Ich sah mich um. Nirgendwo Leute, kein Auto weit und breit. Denk nach. Denk nach. Links und rechts von mir erstreckte sich eine lange, kerzengerade Teerstraße, gesäumt von hohen, schlanken Bäumen, deren Blätter weit über meinem Kopf rauschten.
    Ich wandte mich nach links. Normalerweise zieht es mich immer automatisch nach links. Nach etwa einer Meile gelangte ich zu einem kleinen Dorf mit grauen Steinhäusern, dessen herausragendstes Merkmal war, dass nirgendwo ein Mensch zu sehen war. Was taten die Franzosen eigentlich den ganzen Tag?
    Ich ging durch die Straßen und trat auf einen leeren Platz. Obwohl früher Nachmittag war, hatte keines der Geschäfte geöffnet. Ich setzte mich auf eine Bank und flehte zu Gott, er möge mir helfen. Und mich von diesem Fluch befreien.
    Nach einer Weile stand ich auf und ging weiter, als mir auffiel, dass ich Hunger hatte. Beim Anblick des Schaufensters einer Bäckerei knurrte mir der Magen. Der Laden sah ganz anders aus als eine englische Bäckerei. Statt Marmeladendonuts und mit Sahne

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