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So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

Titel: So sollst du schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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gefüllten Eclairs gab es hier exquisit aussehende Törtchen, allesamt liebevoll garniert und absolut perfekt. Ich starrte auf die glänzenden Erdbeerscheiben, als etwas in der Fensterscheibe aufblitzte. Und diesmal war es kein Traum. Es war real. Ich schwöre es bei den Upanishaden. Ich sah ihre Hände. Ihre roten, rauen, ineinander verkrallten Hände mit den blauen Tintenflecken. Sie stand rechts neben mir.
    Mit einem Aufschrei wich ich vom Schaufenster zurück und fuhr herum. Nichts. Sie war weg. Die Straße war menschenleer. Aber da war er wieder, dieser Gestank nach Dettol.
    Ich taumelte rückwärts. »Lass mich in Ruhe!«, flüsterte ich atemlos und den Tränen nahe. Ich drehte mich um, lief die Straße hinunter, bis zu einer Hausmauer, an der ich mich hinabgleiten ließ und auf den Fersen kauernd sitzen blieb.
    Ich musste mich beruhigen, musste diese Bilder verscheuchen.
    Irgendwo in der Nähe hörte ich Wasser rauschen und stand auf, um dem Geräusch zu folgen. Ich ging eine schmale Gasse entlang, überquerte eine Straße und trat vor eine niedrige Mauer. Ich beugte mich vor und blickte auf einen brackig-braunen Fluss hinab. Am liebsten wäre ich hineingesprungen, hätte mich in den Fluten verloren. Zwei identisch aussehende Brücken führten darüber, eine rechts, die andere links von mir. Gelächter hinter mir riss mich aus meinen Gedanken, doch es war nur ein kleiner Junge, der mit seinem Vater Fangen spielte. Ich sah zu, wie die beiden an mir vorbeirannten. Ihre unübersehbare Zusammengehörigkeit machte meine Einsamkeit noch schmerzlicher.
    Ich überquerte die Brücke links von mir, kletterte den Abhang hinunter und setzte mich ins Gras am Ufer. Alles machte mich nervös: das Poltern eines alten, ramponierten Ruderboots, das gegen die Steinmauer der Brücke schlug, das Geschrei der Krähen in den Bäumen hinter mir, die dünnen Wolken, die am Himmel vorüberzogen.
    Hör auf, Lorrie Fischer. Hör auf, verrückt zu spielen. Was willst du jetzt machen?
    Ich musste mir etwas einfallen lassen. Mir blieb nichts anderes übrig, als mir eine neue Tasche zu klauen. Hatte ich das Wechselgeld meiner Hotelrechnung eingesteckt?
    Ich kramte in den Taschen meiner Jeans. Hundertzehn Francs, die ich lieber in Proviant als in eine Hotelübernachtung investieren würde. Schlafen konnte ich überall. In Frankreich war es heiß, das wusste schließlich jeder. Bestimmt schliefen jede Menge Leute hier im Freien.
    Ich machte einige tiefe Atemzüge, um mich zu beruhigen, ließ mich ins Gras zurücksinken und lauschte dem Rauschen des Wassers, während einige dünne Wolken am Himmel vorüberzogen.
    Nach einer Weile kehrte ich zum Hauptplatz zurück, der zu meinem Erstaunen inzwischen voller Leben war. Wie auf ein geheimes Stichwort hin waren die Menschen aus ihren Häusern gekommen. Alte Männer warfen silberne Kugeln auf den Boden, so wie in Hampstead Heath, nur dass sie nicht in Weiß gekleidet waren und auf dem Rasen standen, sondern die Kugeln einfach durch den Staub kullern ließen.
    Die Tische auf dem Platz waren allesamt besetzt – Familien mit Eistüten in den Händen, Kinder im Sonntagsstaat mit schimmernden Haaren und auf Hochglanz polierten Schuhen. In den mittlerweile geöffneten Läden herrschte reges Treiben. Ich fragte mich, ob die Uhren in Frankreich anders tickten. Vielleicht verschliefen hier die Leute den Tag und standen erst abends auf. In einem der Läden kaufte ich mithilfe von Gesten Brot und Käse, ein Stück Kuchen und, was das Allerwichtigste war, Damenbinden. Als Nächstes kümmerte ich mich um mein Problem auf den öffentlichen Toiletten auf einem Grünstreifen hinter dem Platz. Zum Glück handelte es sich um richtige Toiletten und nicht um diese stinkenden Löcher im Boden.
    Die nächsten Stunden verbrachte ich damit, die Familien auf dem Platz zu beobachten. Ich tat so, als gehörte ich hierher, trank ein paar Flaschen Orangina und verspürte beinahe so etwas wie Ruhe und Gelassenheit, während sich der Himmel zuerst rot, dann violett und schließlich grünlich färbte. Ich hatte keine Lust, schon zu gehen, sondern wäre am liebsten noch eine Weile hiergeblieben, um das Alleinsein hinauszuzögern.
    Ich war eine der Letzten, die den Platz verließen, und konnte mir einen Anflug von Selbstmitleid nicht verkneifen, als ich zur Brücke ging, vorbei an den Häusern mit den zugezogenen Vorhängen und den erleuchteten Fenstern, und mir ausmalte, wie gemütlich die Leute es hatten, während ich mit einem

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