So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
alten, ausrangierten Ruderboot vorliebnehmen musste. Mit gesenktem Kopf und in den Hosentaschen vergrabenen Händen ging ich weiter. Wind war aufgekommen und wehte mir Staub in die Augen. Mittlerweile war es ziemlich dunkel; die einzige Lichtquelle bildete eine gelbliche Straßenlaterne auf der Brücke, in deren Lichtkegel vereinzelte Regentropfen wie Goldfäden glitzerten.
Als ich die Uferböschung hinunterging, rutschte ich prompt aus und fluchte im Geiste, weil ich nicht bereit war, Geld für ein Hotel auszugeben. Ich kletterte in das Ruderboot, in dem jedoch bestimmt zehn Zentimeter hoch das Wasser stand, also zerrte ich es ein Stück die Böschung hoch, so dass es auf der anderen Seite hinausschwappte. Ich fand ein halbwegs trockenes Fleckchen und machte es mir so bequem wie möglich, indem ich die Plastiktüte mit den Damenbinden als Kopfkissen benutzte.
Irgendwann musste ich eingeschlafen sein, denn das Krachen des Donners und ein greller Blitz weckten mich. Im gelblichen Schein der Straßenlampe sah ich den Regen herniederprasseln. Ich war nass bis auf die Knochen. Eilig kletterte ich aus dem Boot, kämpfte mich die rutschige Uferböschung hinauf und kauerte mich mit angezogenen Knien unter einer Trauerweide zusammen, während die Elemente über mir erbittert kämpften. Ein grollender Donner erschütterte den tiefschwarzen Himmel.
Ich zog mich so weit wie möglich unter die Weide zurück, trotzdem entging ich dem Regen nicht. Ich legte mich auf die Knie und betete zu Gott, das Glück möge endlich wieder auf meiner Seite sein. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich dort gesessen hatte, als mich etwas hochschrecken ließ. Der Geruch. Nach antiseptischem Desinfektionsmittel.
»Sieh mich an!«
Ich hörte es. Klar und deutlich. Es klang wie ein Bellen. Ich schlug die Augen auf und sah mich um. Aber da war nichts, nur der prasselnde Regen im Schein der Straßenlampe.
Und dann sah ich es auf einmal im seichten Wasser am Ufer. Etwas kam aus dem Fluss gekrochen. Ich spürte, wie ich mich versteifte.
»Sieh mich an!«, bellte es erneut. Ich erkannte die Stimme. Sie gehörte Miss Fowler.
Angestrengt starrte ich in die Schwärze, bis der gelbe Lichtschein auf die Gestalt fiel. Sie war auf Händen und Knien, das Haar hing ihr klatschnass um die hohlen Wangen. Sie war splitternackt, und ihre Augen waren in den Höhlen nach hinten gekippt, so dass ich das Weiße erkennen konnte. Wie ein Hund kam sie auf mich zu.
»Sieh mich an!«
Diesmal kamen die Worte aus einer anderen Richtung, irgendwo links von mir. Ich fuhr so abrupt herum, dass ich mir den Kopf am Baumstamm anschlug. Hektisch suchte ich die Finsternis ab. Schließlich machte ich eine weitere Gestalt aus – diese hier war größer und so dicht vor mir, dass ich ihr Haar sah, das sich irgendwie bewegte.
»Hier drüben!« Wieder hallte ein Bellen durch die Nacht, diesmal auf der anderen Seite. Lieber Gott, bitte hilf mir. Nun waren sie zu dritt und kamen alle auf mich zu. Das gelbe Licht der Straßenlampe erhellte die dritte Gestalt, so dass ich schwarzes Blut aus ihren Augenhöhlen über ihre Wangen sickern sah. Ihr Haar bestand aus einem Meer sich windender Schlangen. Ich war wie gelähmt vor Angst. Ein Schrei fing sich in meiner Kehle.
Ich wusste genau, wer sie waren. Sie waren gekommen, um den Mord an Miss Fowler zu rächen. Die Furien waren gekommen, um mich zu holen. Und ich wusste, dass sie nicht ruhen würden, ehe sie mich gefunden hatten.
»Sieh dir an, was du getan hast!«, flüsterten sie wie aus einem Munde und spuckten mich an.
Mir stockte der Atem, während ich voller Angst beobachtete, wie sie weiter über die Uferböschung auf mich zugekrochen kamen. Ihre Nägel waren fast dreißig Zentimeter lang. Ich versuchte, die Augen zu schließen und mir einzureden, dass alles nur Einbildung sei, doch es war zu spät. Ich wusste, dass sie ebenso real waren wie ich.
»Lass die Augen offen!«, bellte eine der Gestalten. »Sieh uns an! Mörderin!«
Die Furie links von mir warf abrupt den Kopf zurück, während die Schlangen zischelten: »Du wirst uns niemals entkommen!« Inzwischen hatten sie die Weide erreicht, deren langen Zweige über ihr schlängelndes Haar strichen.
Irgendein Instinkt ließ mich aufstehen und in Richtung Brücke flüchten. Dennoch hörte ich sie immer noch hinter mir flüstern. Ich lief um mein Leben, wohl wissend, dass sie mich verfolgten. Ich hörte ihre Krallen auf dem Asphalt und wagte nicht, mich umzudrehen. Schneller. Als
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