So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
die Leere lässt sich nicht allzu viel sagen.
Die Tatsache, dass ich wusste, was auf mich zukam, nahm den Elektroschockbehandlungen nichts von ihrem Schrecken. Das Schlimmste war der Teil, der auf die Schocks folgte: Es fühlte sich jedes Mal an, als hätte man mich an den Füßen gepackt und so lange geschüttelt, bis ich leer war, bis alles »Ich« aus meinem Körper gefallen war. Selbst der Punkt meines »Ich« existierte nicht länger, so dass nichts blieb, außer meinem wertlosen, geschundenen Körper. Abgesehen von bohrenden Kopfschmerzen und Muskelkater am ganzen Leib fühlte es sich an, als wäre ich durch den Fleischwolf gedreht worden oder so, wie wenn man eine Taschenlampe auseinanderschraubt, alle Einzelteile auf den Boden fallen lässt und dann krampfhaft überlegt, wie um alles in der Welt man sie in der richtigen Reihenfolge wieder zusammensetzen soll. Unmittelbar nach dem Elektroschock konnte ich nicht einmal mein Gesicht dazu bewegen, zu tun, was ich wollte: Die Botschaft meines Gehirns kam schlicht und ergreifend nicht in den Muskeln an, so dass selbst Blinzeln einen enormen Kraftakt darstellte.
Ich wusste genau, was mit mir vorging, weil ich es an den anderen beobachten konnte. Jordi, zum Beispiel, der normalerweise gesprächig und freundlich war – besonders wenn er Klebstoff geschnüffelt hatte –, wirkte bei der Rückkehr aus der Schocktherapie wie der reinste Zombie. Zusammengesunken wie eine schlaffe Marionette saß er in seinem Rollstuhl, sabberte und starrte tagelang nur stumpf aus dem Fenster. Wo es noch nicht einmal etwas Aufregendes zu sehen gab, sondern nur eine Reihe hoher Bäume entlang der endlosen leeren Auffahrt und einen kleinen Brunnen in der Mitte, der jedoch nur wenige Zentimeter mit Wasser gefüllt war, falls jemand auf die Idee käme, sich zu ertränken. Ich wusste, dass es bei mir genau dasselbe war. Das verriet mir der feuchte Fleck auf meinem T-Shirt.
Nach ein paar Tagen erinnerte ich mich allmählich wieder an Details – meinen Namen, Lorrie Fischer, den ich ihnen genannt hatte; dann kehrte die Erinnerung an Dinge zurück, die ich durchaus gern vergessen hätte. Details wie die Tatsache, dass ich in Wahrheit Caroline Stern hieß und Miss Fowler ermordet hatte. Ich erinnerte mich an meine Eltern, an die Organisation und all das Schlechte, was damit verbunden war. Allerdings konnte ich mich niemals an Kleinigkeiten erinnern. Zum Beispiel, wie ich mir die Zähne putzen und mich nach dem Baden abtrocknen sollte. Und wenn einem alles im Leben weggenommen wird, reduziert sich das Dasein genau auf diese Details. Ich versuchte, mir die Zähne zu putzen, bekam aber einfach den Dreh nicht heraus. Jeder Mensch hat eine ganz eigene Art, die Dinge zu erledigen, die so individuell ist wie ein Fingerabdruck; es ist die Identität eines jeden. Und ich hatte meine aus irgendeinem Grund verloren. Oben links, unten links, unten rechts, oben rechts, Vorderzähne. Oder was auch immer. Nach dem Baden stand ich auf dem Vorleger und wusste nicht mehr, wie ich mich abtrocknen musste. Wo sollte ich anfangen? Mit dem Rücken? Den Füßen? Schlang ich mir das Handtuch um den ganzen Körper oder nur um den Oberkörper?
In diesen Momenten war mir bewusst, dass ich mich selbst verloren hatte.
Es dauerte lange Zeit, bis ich an irgendetwas Freude finden konnte. Und es gab genau zwei Dinge, die sie mir schenkten: Wenn ich meine Medikamente etwa eine Woche bunkerte – ich versteckte sie ganz hinten im Gaumen unter der Zunge, so dass sie sie nicht sehen konnten – und alle Tabletten auf einmal nahm, überkam mich ein wohliges, sehr angenehmes Gefühl, als würde ich sterben oder so. Meine einzige andere Freude war der Fernseher. Fernsehen wurde zu meiner Hauptbeschäftigung. Man verfrachtete uns regelmäßig in unseren Rollstühlen in einen Aufenthaltsraum, bis zu zwanzig Patienten, von denen die Mehrzahl ohnehin wegen der Medikamente völlig apathisch war. Wir saßen da und starrten in den Fernseher, egal was lief. Am liebsten mochte ich die Werbung. Einmal schaltete jemand den Apparat aus, aber niemand schien sich daran zu stören. Stattdessen starrten wir weiter stumpf auf den silbrigen Punkt in der Mitte des schwarzen Bildschirms.
Die meisten Patienten bekamen Besuch. Ich hielt jedes Mal Ausschau, wenn sie eintrafen, nur für den Fall, dass meine Mutter darunter war. Oder Mr Steinberg. Oder Megan. Vielleicht kam ja eines Tages auch einmal jemand, der mich sehen wollte. Aber natürlich
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