Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

Titel: So sollst du schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
Vom Netzwerk:
Ausdruck auf ihr Gesicht getreten. Könnte sie diesen Tag überlebt haben? Sie sah beinahe genauso aus wie damals, ein paar graue Haare mehr vielleicht, aber nur wenige. Sie war schon immer eine alte Frau gewesen. Trotzdem war irgendetwas anders. Ich war anders. Mittlerweile überragte ich sie und sah sie aus einem völlig anderen Blickwinkel. Dem Blickwinkel einer Erwachsenen.
    Ich hob eine Hand und berührte vorsichtig ihre knochige Schulter. Sie fühlte sich fest an. Miss Fowler war also real. Ich spürte, wie sie leicht unter meiner Berührung zurückzuckte. Sie hob die Hand, als fürchte sie, ich wolle sie schlagen, als mir der Geruch in die Nase schlug – eau de Dettol . Sie war kein Geist, ganz eindeutig. Sie lebte. Ich konnte mich nicht beherrschen, sondern legte meine zweite Hand auf ihre andere Schulter und verstärkte meinen Griff. Und dann begann ich sie zu schütteln. Und konnte nicht mehr aufhören. Ich schüttelte sie mit aller Kraft.
    »Sie! Sie! Sie!«, stieß ich hervor.
    »Aufhören!«, rief sie. »Du tust mir weh! Hör auf!«
    »Sie! Sie! Sie!«
    Mehr konnte ich nicht sagen.
    »Hilfe, Sir! Hilfe«, rief sie dem alten Mann im Bett zu.
    Ich hielt inne. Hatte sie »Sir« gesagt? Ich löste meinen Griff.
    »Wie war das?«, fragte ich, während sie sich gegen die Mahagonikommode sinken ließ und mich anstarrte, als hätte ich den Verstand verloren. Ich wandte mich der jämmerlichen kleinen Gestalt auf dem Bett zu.
    Das war er also – dieser erbärmliche, pfeifende, glimmstengelsüchtige Zwerg. Er hob seine zitternden, gelb verfärbten Finger an den Mund und zog an seiner Zigarette, während er seine hellblauen Augen auf mich richtete. Das war also der Mann, um den all dieses Aufhebens gemacht wurde – der Whopper. Ich erkannte sein Gesicht von der Statue im Erdgeschoss und konnte nur staunen, dass die Eingangstür kein Hologramm von ihm zierte. Auf Statuen sind die Augen des Dargestellten niemals lebensecht. Seine Augen waren klar und eisig, und trotz seines erbärmlichen Zustands lag ein überheblicher Ausdruck darin – es waren die Augen eines Mannes, der daran gewöhnt war, dass man ihm huldigte. Seine Haut war gerötet, fleckig und großporig. Dunkelviolette Adern verliefen über seine Nase und ließen ahnen, dass ein Leben im Exzess hinter ihm lag. In all den Jahren war ich ihm niemals persönlich begegnet, und ihn nun vor mir zu sehen, war beinahe eine Enttäuschung. Er sah keineswegs wie ein Mann aus, der eine Gemeinschaft anführte, und noch weniger nachvollziehbar war, wie ich seinetwegen so weit unten auf der Prioritätenliste meiner Eltern hatte stehen können.
    »Ich glaube nicht, dass wir uns schon einmal begegnet sind, Mr   Wapinski«, sagte ich. »Mein Name war Caroline Stern.«
    Er musterte mich, noch immer ausdruckslos, ehe sein Blick zu Miss Fowler schweifte. Einen Moment lang glaubte ich, so etwas wie Furcht darauf abzulesen. Wo waren seine Lakaien, wenn er sie brauchte?
    Ich setzte mich auf die Bettkante und schlug die Beine übereinander, während mich das Bedürfnis überkam, irgendetwas zu dem alten Mann zu sagen, etwas Grausames, Beleidigendes, Schmerzhaftes. Etwas, das ein ganz klein wenig für all den Schmerz entschädigte, den ich seinetwegen erlitten hatte. Doch mir fiel nichts ein.
    »Tja, da wären wir also nett beisammen, nicht?«, bemerkte ich stattdessen.
    Ich registrierte, wie Miss Fowler angesichts meiner Unverfrorenheit zusammenzuckte – ich hatte mich aufs Bett des Gurus gesetzt, als wäre ich hier zu Hause, und gab bissige Kommentare von mir.
    Ich hatte den Eindruck, als wolle Mr   Wapinski etwas sagen. Seine Mundwinkel zuckten, doch stattdessen wurde er von einem scheinbar endlosen Hustenanfall geschüttelt und beugte sich über den Nachttisch, um nach der Sauerstoffmaske zu greifen.
    Sie befand sich außerhalb seiner Reichweite, doch statt ihm zu helfen, sah ich ihm nur zu.
    »Hochmut kommt vor dem Fall, was?«, sagte ich voller Hohn, während er mühsam die Finger nach dem Schlauch ausstreckte, von dem ihn lediglich wenige Zentimeter trennten.
    Miss Fowler machte Anstalten, ihm zu Hilfe zu kommen, doch ich unterband den Versuch, indem ich aufstand. Abrupt wich sie zurück. Kein Zweifel, diese Frau hatte panische Angst vor mir.
    »Sie, Miss Fowler«, sagte ich, angespornt von ihrer Furcht, »Sie werden nirgendwo hingehen, bevor Sie sich nicht bei mir entschuldigt haben.«
    Sie sah mich verwirrt und erschrocken an.
    »Sie schulden mir eine Entschuldigung!«

Weitere Kostenlose Bücher