Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

Titel: So sollst du schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
Vom Netzwerk:
dachtest. Ich wusste, dass du geglaubt hast, du hättest sie ermordet, und ich wusste auch, dass du nicht gefunden werden wolltest. Aber ich habe nach dir Ausschau gehalten, Carry. Und wie. Jeden einzelnen Tag meines Lebens. Jedes kleine blonde Mädchen habe ich angesehen, jedes Schulmädchen, jeden Teenager, jede Drogensüchtige auf der Straße, jede junge Frau …«
    »Bist du zur Polizei gegangen und hast mich als vermisst gemeldet?«
    »Nein. Ich bin zu Mr   Wapinski gegangen.«
    »Was?« Ich lachte auf, wenn auch nur, um nicht in Tränen auszubrechen.
    »Ich musste dich loslassen.«
    Mittlerweile war meine Wut verraucht. Ich verdrehte die Augen. Ich hätte diesen dicken kleinen Drecksack gestern umbringen sollen. Kopfschüttelnd stieß ich einen Seufzer aus und fuhr mir mit den Händen durchs Haar.
    »Wirst du jemals anfangen zu denken? Eigenständig zu denken, Mum?«
    Inzwischen weinte sie.
    »Ich glaube nicht, dass ich das kann, Carry. Ich bin nicht stark, so wie du …«
    So hätte sie niemals mit mir geredet, wenn mein Vater noch leben würde. Nie im Leben. Sie zog ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und putzte sich die Nase. Wie ein Mann – daran erinnerte ich mich noch.
    »Wirst du mir jemals verzeihen können?«, fragte sie.
    Ich zuckte die Achseln.
    »Ich ertrage die Vorstellung nicht, wie du dort gelebt hast. So ganz allein?«, schluchzte sie. »Hat sich denn niemand um dich gekümmert?«
    Wieder sah ich aus dem Fenster. »Willst du es wirklich wissen?«, fragte ich nach einer Weile.
    Sie nickte.
    »Jede Viertelstunde kam jemand in mein Zimmer, obwohl da nichts war außer mir und einem Bett, das am Boden festgeschraubt war. Viermal am Tag kam jemand anders, um mir verschiedene bunte Pillen zu geben und mich zu fragen, ob ich Selbstmordgedanken habe. Dann gab es noch jemanden, der mir regelmäßig Elektroschocks verpasst hat. Wenn du das kümmern nennst, ja, dann hat sich wohl jemand um mich gekümmert.«
    Ihr Kopf hatte heftig zu wackeln begonnen, aber sie hatte es ja nicht anders gewollt.
    »Gab es irgendjemanden, der nett zu dir war?«
    Auf diese Frage war ich nicht gefasst gewesen, und sie katapultierte mich in der Zeit zurück.
    »Ja«, antwortete ich schließlich. »Einen Menschen gab es.«
    All die Dinge, die ich niemals ausgesprochen hatte, schienen mit einem Mal wieder da zu sein, ganz neu, so als würde ich sie das erste Mal durchleben.
    »Wen? Wie hieß derjenige?«
    »Wieso ist das wichtig?«
    »Es ist wichtig.«
    »Albert. Albert Gens.«
    Seit zwanzig Jahren hatte ich diesen Namen nicht mehr in den Mund genommen.
    »Albert? Erzähl mir von ihm.«
    »Er war nur ein Mann, Mum. Ein Psychiater, der dort gearbeitet hat.«
    »Bitte!«
    Ich holte tief Luft.
    »Wieso?«
    »Weil ich ihm zu Dank verpflichtet bin«, antwortete sie schlicht.
    Ich sah ihn glasklar vor mir. Seine blitzenden blauen Augen, seinen weißen Bart, das wild abstehende, zerzauste Haar. Er hatte genauso ausgesehen, wie man sich einen Psychiater vorstellte. Wie jemand, der keinerlei Wert auf sein äußeres Erscheinungsbild legte. Albert Gens war ein unvoreingenommener Mensch gewesen, der mich nie wie eine Geisteskranke behandelt hatte. Niemals.
    »Bitte!«, drängte sie weiter, als ich innehielt.
    »Er hat an die Kraft des menschlichen Geistes geglaubt, Mutter. Nicht an Gott. Oder an Krishna. Und an das beschissene Absolute schon gar nicht.«
    Es fühlte sich höchst seltsam an, so mit ihr zu reden.
    Ich konnte mich an alles noch genau erinnern. An diesen klaren, windigen Tag, als ich vor der französischen Synchronisation des Sechs-Millionen-Dollar-Mann es gesessen und mich gefragt hatte, weshalb Steve Austin ungefähr sechs Millionen mal langsamer rannte als die Bösen. Ich lümmelte in meinem Stuhl im Aufenthaltsraum herum, während Albert, in einen leuchtenden Sonnenstrahl gebadet, am Fenster stand. Weshalb sollte ich es ihr nicht erzählen? Weshalb nicht den Moment schildern, in dem ich gerettet worden war?
    Ich holte tief Luft.
    »Okay«, sagte ich. »Albert hatte diesen Drogenabhängigen namens Jordi behandelt, der sich alles reinzog, was er kriegen konnte. Absolut alles. Sogar Bleichmittel, wenn er es in die Finger bekam. Alle wussten, dass er bei jeder sich bietenden Gelegenheit Klebstoff aus den Büros klaute. Ich hatte immer gehofft, Albert würde irgendwann auch mich behandeln, weil ich mitbekommen hatte, dass seine Patienten über kurz oder lang die Anstalt verlassen durften. Aber sein Englisch war leider nicht

Weitere Kostenlose Bücher