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So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

So sollst du schweigen: Roman (German Edition)

Titel: So sollst du schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clara Salaman
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den Hörer ab. Ich sah zu, wie sie eine Nummer wählte. Dabei brauchte ich nicht einmal hinzusehen, denn ich wusste auch so, wo sie anrief. Ich wusste nur nicht, wen sie zu erreichen versuchte. Zwischen den einzelnen Ziffern sah sie zu mir herüber und wischte sich die Tränen ab. Ich beobachtete, wie sie ihre Finger zwischen die Augen und ihre verschmierten Brillengläser zwängte.
    »Hallo?«, sagte sie und schniefte ein letztes Mal, ehe sie einen aufgesetzt fröhlichen Tonfall anschlug. »Anthea? Ich bin’s, Judith. Hallo. Könnte ich bitte Miss Fowler sprechen? Danke.«
    Sie wartete eine halbe Ewigkeit. Ich stellte mir vor, wie Anthea, Kates Tante, die in Riversmead lebte, den Hörer weglegte, in ihrem langen Rock und ihren Gesundheitsschuhen die breite Treppe erklomm, dann den langen, mit rotem Teppich ausgelegten Flur entlangging und behutsam an die schwere Holztür klopfte. »Entschuldigung, wenn ich störe«, würde sie mit leiser, atemloser Piepsstimme sagen, »aber Judith Stern ist am Telefon und würde Sie gern sprechen, Miss Fowler.« Miss Fowler würde die Zähne blecken und sich ärgern, weil Caroline Stern wieder einmal ihr wohlgeordnetes Leben störte, aber trotzdem ihre Sanskritstunde unterbrechen und nach unten gehen.
    »Hallo! Es tut mir schrecklich leid, wenn ich Sie störe, Miss Fowler«, sagte meine Mutter in unterwürfigem Tonfall. Ihr Mangel an Würde war so abstoßend, dass ich den Kopf abwenden musste.
    »Ich weiß mir einfach nicht mehr zu helfen. Es geht um Caroline …«
    Sie schwieg einen Moment lang, und ich bemerkte, dass sie Mühe hatte, die Tränen zurückzuhalten.
    »Sie will nicht essen und nicht sprechen, sondern liegt nur auf dem Bett herum«, fuhr sie fort. »Ich weiß nicht, was ich noch machen soll. Ich bin mit meinem Latein am Ende.«
    Sie nickte, und als sie fortfuhr, klang ihre Stimme beinahe fröhlich. »Danke, Miss Fowler. Vielen, vielen Dank.«
    Ehe ich michs versah, stand Mr   Wilson, der Zahnarzt der Organisation, vor der Haustür, um mich abzuholen und nach Riversmead zu bringen. Aber auch das war mir gleichgültig. Es kümmerte mich nicht länger, was um mich herum geschah. Ich fühlte mich, als würde ich mit dem Gesicht nach unten in einem Schwimmbecken treiben. Ich würde mich einfach vom Wasser mitziehen lassen, egal wohin.
    Mr   Wilson war den Umgang mit Kindern nicht gewohnt, das lag auf der Hand. Und nachdem ich keine einzige seiner Fragen beantwortet hatte, gab er auf. Die restliche Fahrt verlief schweigend.
    Als wir ankamen, war es bereits dunkel. Mr   Wilson fuhr auf den gekiesten Parkplatz und trug meine Reisetasche ins Haus. Wir gingen durch die von zwei Säulen gesäumte Vordertür hinein, was ich bisher noch nie getan hatte. Mir fiel auf, dass er mich als Erste eintreten ließ. Vielleicht hatte ihm ja niemand gesagt, dass ich der Teufel persönlich war. Oder er hielt es für ratsam, den Teufel vor sich hergehen zu lassen, damit man ihn im Auge behalten konnte.
    In Riversmead herrschte stets eine gewisse Nervosität und Anspannung unter den Erwachsenen, weil der Whopper so viel Zeit dort verbrachte. Wenn er nicht bereits dort war, stand seine Ankunft unmittelbar bevor, so dass die Anwesenden aufgeregt flüsternd durch die Gänge hasteten. Ich persönlich war dem Whopper noch nie begegnet; er hielt sich stets hinter geschlossenen Türen auf, hinter denen man seine Handlangerinnen – in der Organisationshierarchie weit oben stehende Frauen – verschwinden, dann wieder auftauchen und atemlose Instruktionen an andere Frauen weitergeben sah. Einmal hatte ich durch eine offene Tür einen Blick auf seinen Rücken erhascht, war allerdings ein wenig enttäuscht vom Anblick der stämmigen Gestalt mit der Halbglatze gewesen.
    Vor Jahren, als ich noch ein glückliches kleines Mädchen gewesen war, hatte ich Miss Fowler einmal gefragt, weshalb wir nach der Vollendung unseres sechzehnten Lebensjahrs diese langen Kleider tragen mussten, woraufhin sie blass vor Wut geworden war. »Vielleicht möchtest du ja, dass ich einen Termin mit Mr   Wapinski vereinbare, damit du ihn das selbst fragen kannst«, hatte sie mit vor Sarkasmus triefender Stimme erwidert. Ich hatte darauf entgegnet, dass mir das gut gefallen würde. Aber dazu war es nie gekommen. Die Vorgehensweisen dieses Mannes waren ziemlich mysteriös, denn einerseits mussten die verlobten Mädchen als Jungfrauen in die Ehe gehen, andererseits wussten alle, dass Joannas Vater eine Affäre mit Mrs   Michaels

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