So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
hatte und Mr Wapinski nichts dagegen unternahm. Mehr noch – offenbar hieß er sie sogar gut, sonst hätte man den beiden wohl kaum erlaubt, sie weiterzuführen. Für Joanna und ihre Schwester, die beide in Mrs Michaels’ Klasse gingen, war das Ganze jedenfalls alles andere als angenehm.
Mr Wilson wies mich an, mich auf einen Stuhl vor der Küche zu setzen und zu warten. Ich hörte Miss Fowler, noch bevor ich sie sah. Ihr Husten war unverkennbar. Ich hob den Kopf. Sie schien nicht allzu glücklich über mein Auftauchen zu sein. Ihre Nase war gerötet.
»Du stehst unter Anthea Warners Aufsicht und wirst tun, was sie dir sagt, und zwar ohne Widerrede. Wenn du dich widersetzt oder dich nicht anständig benimmst, schickt sie dich zu mir.« Und damit verschwand sie.
Ich folgte Anthea Warner die Treppe hinauf. Sie hatte ein ziemlich dickes Hinterteil und gewelltes rotes Haar, das sie zwar zum gewohnten Dutt frisiert hatte, im Gegensatz zu den anderen Frauen jedoch locker zusammengesteckt im Nacken trug. Sie brachte mich in ein kleines Zimmer mit einem Boiler und einem Feldbett.
»Hast du Hunger?«, fragte sie. Ich schüttelte den Kopf.
»Bestimmt bist du müde.« Ich sah ihr an, dass sie mich nicht leiden konnte. Sie kannte mich zwar nicht, hatte aber offenbar bereits von mir gehört.
Ich war müde. Ich zog mich aus, schlüpfte in mein züchtiges Nachthemd, knipste das Licht aus, legte mich ins Bett und starrte in die Dunkelheit, bis ich einschlief.
Mitten in der Nacht weckte mich jemand. Die grelle Deckenbeleuchtung wurde angeschaltet.
»Aufstehen! Caroline! Es ist halb fünf. Zeit, den Tee zu kochen.«
Im ersten Moment wusste ich nicht, wo ich war und wen ich vor mir hatte. Dann fiel es mir wieder ein. Schlaftrunken stand ich auf und zog in der Kälte des Zimmers meinen Morgenmantel über. In meiner Eile hatte ich vergessen, meine Hausschuhe einzupacken.
Ich ging die breite geschwungene Treppe hinunter, durchquerte die kalte Eingangshalle und betrat die riesige Küche mit dem massiven Holztisch in der Mitte, wie man sie aus Schlössern wie Hampton Court kennt. Der Steinboden unter meinen bloßen Füßen war eisig, und meine Zehen waren bereits weiß vor Kälte.
Anthea Warner hatte zwei Wasserkessel aufgesetzt, die in der Kälte dampften; daneben standen zehn Tassen und Untertassen mit dem vertrauten blau-weißen Muster sowie zehn kleine Tabletts mit Milch- und Teekännchen. Meine Aufgabe bestand darin, die Runde durch die Zimmer sämtlicher Lehrer zu machen und sie zu wecken.
Ich gähnte, was Anthea Warner mit einem missbilligenden Blick quittierte. Ich erwiderte ihn. Ich fand es ziemlich unfair, dass sie lediglich anhand von Gerüchten eine derartige Aversion gegen mich entwickelt hatte. Wie ich diesen Verein hasste.
Mr Gates, der im Ficino Room übernachtete, war der Erste in meiner Runde. Höflich klopfte ich an, doch scheinbar hörte er mich nicht, also klopfte ich erneut, diesmal lauter. Immer noch keine Reaktion. Ich öffnete die Tür und machte eine Gestalt unter der Bettdecke aus. Leise trat ich ein, stellte das Tablett auf dem Nachttisch ab und knipste, als er sich immer noch nicht regte, das Licht an.
»Danke.« Er setzte sich auf und musterte mich blinzelnd wie eine Wasserratte. Unwillkürlich musste ich an die arme Helen Winters denken, die vom Dach des Parkhauses gesprungen war, und stellte mir vor, wie sie jeden Tag beim Aufwachen Mr Gates’ winzige dunkle Augen und seine zuckende Nase vor sich gesehen hätte. Ich fragte mich, wie es ihr in ihrem nächsten Leben wohl gehen mochte.
Anschließend ging ich wieder nach unten, um ein weiteres Tablett zu holen. »Das ist für deinen Vater«, sagte Anthea Warner. »Er ist im Shiva Room.«
Der Shiva Room – das bedeutete, dass mein Vater wichtig war, denn dort waren ausschließlich Whoppers Lieblingsgäste untergebracht. In gewisser Weise tat mir mein Vater leid, weil ich mit meinem Verhalten ständig seine harte Arbeit zunichtemachte.
Leise klopfte ich an die Tür. Ich konnte mich nicht erinnern, meinen Vater jemals zuvor geweckt zu haben.
»Herein!«, sagte er. In seiner Stimme lag nicht einmal ein Fünkchen Müdigkeit, sondern er schien es kaum erwarten zu können, endlich mit seinem Tagwerk zu beginnen. Er hatte sich im Bett aufgesetzt, die Nachttischlampe angeknipst und las in seinen Upanishaden.
Im Schlafanzug oder Nachthemd sehen die Leute immer völlig anders aus, wie Kinder, fiel mir auf.
»Vielen Dank«, sage er und
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