So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
nach meinen Notizen.
»Ehrlich gesagt, sehr gut, Lorrie.«
»Klingt ja interessant.« Mittlerweile durchwühlte ich meine Schublade hektisch nach einem Stift.
»Wir sind an etwas Geld gekommen«, sagte Lesley und unterdrückte mit Mühe ein breites Grinsen. Instinktiv sah ich zu Michael hinüber, der mich mit ausdrucksloser Miene ansah.
»Sie Glückspilze!«, sagte ich und verkniff mir die Frage, woher sie das Geld hatten.
»Wir fahren in den Urlaub. Nach Florida.«
»Wie nett. Nach Disneyland?«
»Ja. Und wir steigen in einem 5-Sterne-Hotel ab.«
»Wow!« Endlich hatte ich meinen Stift gefunden und schlug mein Notizbuch auf.
»Deshalb müssen wir die nächsten beiden Sitzungen ausfallen lassen.« Sie lächelten einander sogar an. Wer behauptete eigentlich, dass man sich Liebe nicht erkaufen konnte?
»Okay.« Ich strich die Blätter glatt.
»Und … die große Neuigkeit ist, dass wir ab sofort auf privat wechseln.«
Ich starrte sie gekränkt an. »Sind Sie denn nicht zufrieden mit unseren Sitzungen?«
»Gott, nein! Ich habe nicht die Therapie gemeint«, wiegelte sie eilig ab.
»Wir holen aus dem Staat raus, was zu kriegen ist«, warf Michael gut gelaunt ein. Gut gelaunt! So hatte ich diesen Mann noch nie erlebt. Am liebsten hätte ich ihm über sein rotes Samtköpfchen gestrichen.
»Nein, wir werden Gemma auf eine Privatschule schicken«, fuhr Lesley fort. »Das haben wir uns schon immer gewünscht.«
»Oh?«
Wie man sich unschwer vorstellen kann, bin ich der Meinung, dass die Ausbildung an Privatschulen vollkommen überschätzt wird.
»Na ja, in ihrer jetzigen Schule macht sie sich ja nicht allzu gut«, pflichtete ich bei.
»Genau. Und in der neuen Schule ist die Verpflegung während des Tages sehr gesund, sehr Jamie-Oliver-mäßig, was Sie bestimmt freut. Das war ja ein großer Teil des Problems bei Gemma – dass sie so gesundheitsbewusst ist.«
Genau. Deshalb wog sie auch nur etwas mehr als dreißig Kilo.
»Und wird die Schule von der Gemeinde gefördert?«, fragte ich weiter.
»Nein, ehrlich gesagt, ist es eine unabhängige Schule«, verkündete sie stolz, als bedeute »unabhängig«, dass sich diese Schule aus einem unseligen Abhängigkeitsverhältnis befreit hatte. »Eine erstklassige Schule. Nächsten Monat fängt sie an. St. Augustine’s.«
Ich hielt abrupt inne.
»Entschuldigung«, sagte ich und hob den Kopf. »Was sagten Sie gerade?«
»St. Augustine’s in South Kensington.«
Ich war so vor den Kopf geschlagen, dass ich die Worte nur stumpf wiederholen konnte. »St. Augustine’s in South Kensington?«
»Das klingt doch prima, oder nicht?«
»Aber das können Sie nicht machen!«, platzte ich mit unangemessener Heftigkeit heraus.
»Entschuldigung?«, sagte Michael.
»Es ist doch so weit weg«, wiegelte ich ab.
»Ich finde, mein Kind hat ein Recht auf eine anständige Schulausbildung, und dafür lohnt sich auch ein längerer Anfahrtsweg. Sie sollten die Schule nur mal sehen! Sie ist sensationell. Eigentlich gar nicht wie eine Schule. Überall dicke, flauschige Teppiche, die Schüler tragen Hausschuhe, dann gibt es richtiges Porzellan, Kronleuchter und tolle Bilder an den Wänden. Und es gibt auch alle möglichen Kurse. Sie würden es nicht glauben, Lorrie. Natürlich wird das Übliche angeboten, aber auch andere Sachen, sogar Feddischen Tanz.«
Vedisch. Vedisch, Weee-disch ausgesprochen.
»Das ist dieses Zeug, das man immer in Bollywood-Filmen sieht. Und Gem liebt doch Tanzen.«
Mir wurde bewusst, dass ich sie mit offenem Mund anstarrte.
»Und stellen Sie sich nur vor, dort wird sogar Sansklit gelehrt.«
Herrgott! Sans krit , Lesley. Sans krit !
»Die mögen indische Dinge dort. Ich glaube, es ist so eine Art indische Schule. Nur dass es kein Curry zu essen gibt.«
Ich nickte mit gesenktem Blick. Arme Gemma. Arme, arme Gemma.
»Und die Rektorin, so eine kleine Rothaarige, die keinen BH anhatte, war ja auch so wahnsinnig nett. Sie meinte, sie hätten auch schon früher Schülerinnen mit Anorexie gehabt, und hat versprochen, Gemma im Auge zu behalten. Das ist eine ganz besondere Schule, Lorrie. Sogar Prominente schicken ihre Kinder dorthin. Sie wird sich bestimmt schnell einleben.«
Ich habe keine Ahnung, wie ich den Rest der Therapiestunde hinter mich brachte, während mich unablässig Bilder der dünner und dünner werdenden Gemma verfolgten, die vor dem Klassenzimmer stand, die Stirn gegen ein heißes Wasserrohr gepresst.
Später saß ich auf der Bank im
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