So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
diese Schule, weil sie begreifen sollen, dass das Leben nicht nur aus der materiellen Welt besteht. Ich will, dass sie ihre Spiritualität entdecken. Ich will, dass sie etwas Sinnvolles zu dieser Welt beitragen. Sie sollen wissen, dass ihr Dasein einem bestimmten Zweck dient. Und ich finde keine andere Schule, die all das bietet. Ist das so verkehrt? Caroline, versteh doch. Die Schule ist heute vollkommen anders als zu deiner Zeit.«
Ich sah ihm in die Augen. »Das will ich verdammt noch mal auch hoffen«, gab ich, mittlerweile todernst, zurück, legte mich auf den Rücken und starrte zum abblätternden Putz an der Zimmerdecke hinauf.
»Caroline! Es ist wirklich ganz anders dort. Damals war es extrem. Viel zu extrem.«
»Das sagst du heute ! Wieso hat es damals keiner zugegeben, verdammt noch mal?« Selbst ich war erschrocken über die Heftigkeit meines Ausbruchs.
Er richtete sich auf und lehnte sich gegen das Kopfteil des Bettes.
»Wieso bist du nur so wütend?«, fragte er sanft.
»Du bist es wahrscheinlich auch, Steinberg, nur ist es dir nie aufgefallen, weil sie dir eine Gehirnwäsche verpasst haben. Nur die Sache mit den Kindern, die ertrage ich nicht. Ihnen gegenüber ist es so verdammt unfair!«
»Wenn die Schule so wäre, wie sie damals war, würde ich meine Kinder niemals dorthin schicken.«
Ich lachte freudlos auf. »Aber für uns war sie okay, ja? Und es war auch okay, dort zu unterrichten?«
»Damals haben wir daran geglaubt. Wir dachten, wir vollbringen etwas wirklich Bedeutsames.« Er klang ziemlich leidenschaftlich. »Ich stamme aus einer Familie, in der Spiritualität keinerlei Rolle spielte. Ich hatte nie das Gefühl, zu etwas zu gehören, und als ich von der Organisation hörte, hatte ich das Gefühl, sie sei genau das, wonach ich immer gesucht hatte. Deshalb habe ich die Gelegenheit, dabei zu sein und in St. Augustine’s zu unterrichten, beim Schopf ergriffen, Caroline.«
Ich stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Aber … na ja«, fuhr er fort und sah aus dem Fenster, als halte der lilafarbene Himmel eine Antwort für ihn parat. »›Macht verführt zu Korruption. Und absolute Macht bedeutet absolute Korruption.‹«
»Wapinski?«
»Ja. Alle, die dort waren, begriffen das allmählich. Und Fowler …«
»Nicht!« Ich wandte mich zu ihm. »Sprich ihren Namen nicht aus!« Ich meinte es ernst, und er wusste es.
»Okay, okay. Aber du musst wissen, dass sich die Dinge geändert haben, seit Miss Howard das Ruder übernommen hat.«
»Bitte!«, herrschte ich ihn an. »Hör doch mit diesem Geschwafel auf, von wegen, es sei alles anders. Hör auf, mit diesem ›Heute ist alles ganz anders als früher‹-Schwachsinn meine eigene Vergangenheit und die all der anderen schönzureden.« Ich registrierte das Zittern in meiner Stimme. »Hör auf, mein Leben auf diese Weise zu negieren. Diese Dinge sind passiert, das ist eine unumstößliche Tatsache!«
Ich trat die Laken beiseite und stand auf, doch Steinberg packte mich am Handgelenk.
»Komm her! Komm her! Komm her!«, sagte er und zog mich wieder in seine Arme. »Schhh …« Er hielt mich fest, als wäre ich in Tränen ausgebrochen. Natürlich hatte er recht. Hätte ich noch Tränen, wäre dies wohl der Augenblick, in dem ich sie vergießen würde.
»Was für Dinge, Liebling? Und welche Tatsachen sind unumstößlich?«, flüsterte er und strich mir zärtlich über die Wange.
Vielleicht lag es an der Wärme seines Atems an meinem Ohr, seinem lispelnden Akzent oder dem Wort »Liebling«, doch aus irgendeinem unerfindlichen Grund hätte ich es ihm um ein Haar gesagt. Stattdessen löste ich mich gerade noch rechtzeitig aus seiner Umarmung und begann mich anzuziehen.
Ich wusste sofort, dass sich etwas anbahnte, als Lesley und Michael Jameson sich so dicht nebeneinander setzten, dass ihre Stühle sich beinahe berührten. Die Tatsache, dass Michael nicht wie gewohnt am Fenster stand und nach draußen starrte, fühlte sich irgendwie verkehrt an. So, als verlange der Tag nach ihm, doch er ignoriere die Rufe.
Ich bot den beiden einen Keks an. Ich hatte Bärenhunger. Lesley lehnte mit einer ausschweifenden Geste ab, wobei mir auffiel, dass sie bei der Maniküre gewesen war: perfekte, winzige US -Flaggen zierten ihre Nägel. Sie war auch beim Friseur gewesen und hatte sich das Haar schwarz mit weißen Strähnen färben lassen, was ihr das Aussehen eines fähnchenschwenkenden Skunks verlieh.
»Wie geht’s?«, fragte ich und kramte in der Schublade
Weitere Kostenlose Bücher