So sollst du schweigen: Roman (German Edition)
Raum zu Tilly hinüber.
»Etwas stimmt nicht.«
»Was ist los?«
Sie senkte die Stimme. »Ich glaube, Nate hat eine Affäre.«
Familien, die der Organisation angehören, neigen aus unerfindlichen Gründen dazu, sich alle in einer Wohngegend niederzulassen. Chiswick war so eine Gegend. Allein das Wort »Chiswick« beschwor zahllose Bilder in meinem Kopf herauf: düstere, freudlose Häuser, in denen erst lange nach Einbruch der Dämmerung das Licht eingeschaltet wurde, eiskalte Zimmer, Renaissancedrucke mit religiösen Motiven an den Wänden, Klaviere mit aufgeschlagenen Mozart-Noten auf dem Ständer, blank geschrubbte Holzböden, auf Hochglanz polierte Holzstühle, dunkles Mobiliar, vielleicht vereinzelte Vishnu- oder Ganesha-Figuren auf dem Kaminsims, blau-weiß gemustertes Geschirr in der Küche, ein schlichter Holztisch, ein Kalender mit kalligrafischen Zitaten aus der Bhagavad Gita, der Bibel oder – wie modern und ketzerisch – von Shakespeare, der Geruch nach Milch und frisch gebackenem Brot, Zugluft, Zimmerpflanzen, Nippes auf dem Fenstersims, heilige Schriften auf Nachttischen, lange Röcke in den Kleiderschränken. Und Stille. Überall diese Stille, lediglich vom Ticken einer alten Uhr oder dem leisen Rascheln eines Rocks durchbrochen.
Umso irritierender war es, dass Megans und Steinbergs Haus ganz und gar nicht so aussah. Steinberg öffnete die Haustür. Er war so vertraut mit dieser Umgebung, dass er förmlich mit ihr verschmolz, und es fühlte sich grundverkehrt an, einen Fuß über die Schwelle zu setzen, so als klettere man als Erwachsener in ein Kinderbettchen.
»Kommt rein! Hey, Joe!« Er schüttelte Joe die Hand und nahm ihm die Weinflasche ab. »Danke!«
Wir küssten einander auf die Wangen, vermieden jedoch jeden Blickkontakt.
Musik wehte aus dem oberen Stockwerk herunter, irgendetwas Harsches, Urbanes, das so gar nicht zu einem Heim in Chiswick passte.
»Cam!«, rief Steinberg. »Dreh die Musik ein bisschen leiser, ja?« Sekunden später war kaum mehr was zu hören.
Auf dem Weg in die Küche ließ ich den Blick umherschweifen. Zu meinem Erstaunen verströmte das Haus eine lebhafte, fröhliche und eigentümlich normale Atmosphäre. Nur ein oder zwei Kleinigkeiten verrieten, dass sie der Organisation angehörten: die obligatorische gerahmte Aufnahme von Sri Chabaransha neben der Tür, dieselbe wie die im Haus meiner Eltern – eine gebieterisch dreinblickende Gestalt in dieser Art Windel –, und der Kalligrafiekalender an der Wand zwischen Esszimmer und Küche, die groß und gemütlich war. Und ebenso ungewöhnlich normal. Beim Anblick des Schullogos auf den Stundenplänen und diversen Briefen an der Pinnwand zuckte ich innerlich zusammen. Auf der Arbeitsplatte stand es – das obligatorische blau-weiße Geschirr. Wahrscheinlich gab die Organisation inzwischen sogar einen Jahreskatalog heraus, aus dem man sich diesen gruseligen Kram aussuchen konnte.
Megan, die an der Arbeitsplatte stand und Tomaten schnippelte, und ich begrüßten uns mit einem Kuss.
»Riecht gut!«, bemerkte ich, »sag bloß nicht, du servierst uns etwas Gekochtes!«
»Ach, Caroline!«, tadelte sie lachend. Weiß der Teufel, wieso die Vorstellung, nichts Gekochtes zu essen, auf einmal so abwegig war.
»Was für ein nettes Bild«, bemerkte ich auf diese automatische Weise, mit der ich gelegentlich etwas lobte, obwohl ich in Wahrheit am liebsten das genaue Gegenteil sagen würde; zum Beispiel etwas wie »hübsche Frisur«, wenn mir die Haarpracht lediglich ins Auge gestochen war, weil sie auffallend schrecklich aussah. Das Bild war grässlich: es zeigte ein heiter-gelassen dreinschauendes Wesen, das neben einem Busch kauerte, und allem Anschein nach hatte der Künstler versucht, die Atmosphäre von feinstofflicher Heiligkeit zu erschaffen. Das Gemälde war riesig und schien genau jemandes Geschmack zu treffen. Was wohl der Grund war, weshalb ich mich zu einem Kommentar verpflichtet gefühlt hatte.
»Es ist von Charles. Erinnerst du dich an Charles Grey?«, fragte sie fröhlich.
Natürlich erinnerte ich mich an Charles Grey – ein kleiner Loser aus der Klasse unter uns, der in der Organisation mittlerweile offenbar als talentiert galt. Bestimmt hatten alle einen Charles Grey in ihrem Haus hängen, jede Wette. Aber ein Tag in der realen Welt, und der Kerl würde sang- und klanglos untergehen.
Es war gut, hier zu sein und Steinberg in seinen eigenen vier Wänden zu sehen, inmitten des öden, talentlosen Charles
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