So still die Toten
sodass Angie nicht mehr ins Haus hineinsehen konnte. »Gut. Er schläft jetzt. Hatte einen schlechten Tag. War die ganze Zeit quengelig.«
»Er ist doch nicht krank, oder?«
»Er bekommt Zähne.«
Angie hatte keine Ahnung von frühkindlicher Entwicklung. »Ist es normal, dass er in seinem Alter Zähne bekommt?«
»Er ist ein bisschen spät dran, aber er wird schon noch aufholen.«
»Gehen Sie regelmäßig mit ihm zum Arzt?«
Vivians Augen verengten sich. »Als er kleiner war, ist Lulu mit ihm gegangen. Seit er bei mir ist, war er immer gesund, also war ich nicht mit ihm beim Arzt.«
Das klang nicht ganz in Ordnung. »Dann ist er also altersgemäß entwickelt?«
»Einigermaßen, im Moment jedenfalls.« Ihre Stimme klang, als wolle sie sich verteidigen.
Angie hätte gern gesagt, dass das nicht ausreichte. Aber der Junge war nicht ihr Kind. »Und wie geht es Ihnen?«
Vivian hob die Schultern. »Ganz gut. Machen Sie sich keine Sorgen.«
»Ich kann nicht anders.«
Vivian runzelte die Stirn. »In der Zeitung stand heute, dass Lulu wegen Ihnen gestorben ist. Dass derjenige, der die Frauen umbringt, es auf Leute abgesehen hat, die Sie kennen.«
»Der Autor des Artikels hat ein paar schreckliche Dinge unterstellt, die nicht auf Tatsachen beruhen.«
»Es muss doch stimmen, sonst würde es nicht in der Zeitung stehen.«
Ärger kochte in Angie hoch. »Die Zeitungen haben nicht immer recht.«
»Für mich klang es überzeugend.« Vivian warf einen Blick auf die Tüte in ihrer Hand. »Es ist besser, wenn Sie sich von uns fernhalten. Ich will nicht, dass David etwas zustößt.«
»Ich würde nie etwas tun, das dem Jungen schadet.«
»Das Risiko kann ich nicht eingehen. Bitte gehen Sie jetzt.«
»Was ist mit der Rechtsberatung?«
»Ich suche mir einen anderen Anwalt.«
Er folgte Angie vom King’s zum Haus von Vivian Sweet und dann wieder zurück zum Pub. Während er im Schatten auf der anderen Straßenseite gegenüber dem Pub stand, beobachtete er, wie im Dachgeschoss das Licht anging und schließlich erlosch. Er stellte sich vor, wie sie sich auszog, bevor sie zwischen die kühlen Laken schlüpfte.
Abwesend rieb er sich die Hände und malte sich aus, wie es sich anfühlen würde, wenn er das Messer nahm und es über die zarte Haut an ihrem Hals zog.
»Schlaf gut, Angie Carlson. Morgen ist unser großer Tag.«
27
Donnerstag, 13. Oktober, 7:00 Uhr
Angie deaktivierte die Alarmanlage und betrat die Kanzlei. Heute Morgen hatte sie darauf verzichtet, eine Polizeieskorte zu bestellen. Sie hätte es tun sollen, aber nach dem gestrigen Abend mit Malcolm hatte sie einfach mit niemandem reden wollen – schon gar nicht mit einem Cop.
Bei Eva hatte sie eine schlaflose Nacht verbracht. Ihre Gedanken waren zwischen Malcolm und David hin- und hergesprungen, und sosehr sie auch versuchte, auf andere Gedanken zu kommen, die beiden verfolgten sie.
Angie stieß die Tür mit dem Fuß hinter sich zu. Im Büro war es zu dieser frühen Stunde angenehm still. Die Telefone klingelten nicht, die Faxgeräte gaben keinen Mucks von sich, und weder Charlotte noch Iris würden zu ihr ins Büro kommen, um sie irgendetwas zu fragen. Sie ging zu Iris’ Schreibtisch hinüber und stellte ihre Aktentasche und ihre Handtasche ab.
Sie hörte die Tür zufallen, vermisste jedoch das Einrasten des Schlosses. Als sie sich umwandte, um die Tür richtig zu schließen, sah sie, wie sie geöffnet wurde. Ein großer Mann, das Gesicht von einer Kapuze beschattet, stand im Eingang.
Angie schrie auf und wich zurück, bis sie gegen den Schreibtisch stieß. Fieberhaft dachte sie an das Pfefferspray, das ganz unten in ihrer Handtasche lag, und an das Telefon hinter ihr. Doch sie wagte nicht, den Blick von dem Mann zu lösen. »Verschwinden Sie, sonst rufe ich die Polizei.«
Wie hatte sie nur so töricht und unvorsichtig sein können?
Der Mann hob die Hände und zog die Kapuze aus dem Gesicht. »Angie, halt. Ich will nur reden.«
Martin!
»Bleiben Sie mir vom Leib!«
»Ich tue Ihnen nichts. Ich will einfach nur reden.«
Ihre Hände zitterten, und fahrig griff sie hinter sich nach dem Telefon. »Wenn Sie reden wollen, kommen Sie später wieder, wenn Leute hier sind.«
»Ich möchte mit Ihnen reden. Privat.«
Angies Finger tasteten blind über den Schreibtisch, bis sie den Hörer fand. Sie hob ihn ans Ohr. »Später am Tag, Martin.«
Er blieb in der Tür stehen und schien sich mehr zu fürchten als sie. »Mein Nachname ist Rayburn. Ich bin Blues
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