So still die Toten
eine.
Sie führte die Hand zur Nase, und ganz kurz blitzte Angie Carlsons Gesicht vor ihrem inneren Auge auf. Die Anwältin hatte sie heute Nachmittag angesehen und ganz offensichtlich erwartet, dass sie Scheiße bauen würde. Der Blick hatte Lulus Zorn entfacht, und sie war entschlossen gewesen, dieser hochnäsigen Zicke zu zeigen, dass sie den Aufwand wert war.
In der schicken Kanzlei hatte sie sich einen Moment lang genauso schäbig gefühlt wie im Zeugenstand. Und das hatte sie wütend gemacht. Aber sie hatte den Mund gehalten, denn mehr noch, als Carlson zu sagen, sie solle sich verpissen, wollte sie ihren Sohn zurückhaben.
Und es war gut gewesen, dass sie sich beherrscht hatte. Am Ende des Gesprächs hatte in Angies Augen ein ganz kleiner Hoffnungsschimmer gelegen.
Ich will meinen Sohn
.
Dieses winzige Häufchen weißen Pulvers würde nicht nur den Funken Hoffnung in Angies Augen auslöschen. Falls der Richter morgen einen spontanen Drogentest anordnete, würde sie es für immer vermasselt haben. Sie würde David nie mehr zurückbekommen, und Angie würde sie fallen lassen.
Tränen brannten in Lulus Augen, während sie auf ihre Handfläche starrte. Sie wollte das Koks so sehr, dass sie zitterte.
Aber wollte sie die Drogen mehr als David?
»Scheiße!«
Ehe sie es sich anders überlegen konnte, rieb sie ihre Hände aneinander, und das weiße Pulver stob in die Nacht.
Ihre Hände bebten. »Bin ich denn bescheuert?« Sie hatte gerade den sicheren Fluchtweg aus ihrem Elend weggeworfen. Doch während sie langsam ein- und ausatmete, überkam sie ein Gefühl des Triumphs. Heute hatte sie gekämpft und den Drogen widerstanden.
Aber was war morgen?
»Ich habe nur das Jetzt.« Sekundenlang stand sie einfach nur da und atmete ein und wieder aus. Sie wollte nicht zurück in die Bar, aber sie brauchte diesen Job. Sie musste arbeiten. Gute Mütter gingen arbeiten.
Lulu drehte sich um und wollte eben wieder hineingehen, als sie hinter sich Schritte hörte. »Ich will nichts mehr, Tony.« Inzwischen lag eine gewisse Kraft in ihren Worten, und sie spürte, bis morgen konnte sie es schaffen. Über die Zeit danach würde sie sich Gedanken machen, wenn es so weit war.
Eine starke Hand legte sich auf ihre Schulter, und sie schüttelte sie ab. »Ich habe Nein gesagt, Tony.«
»Ich akzeptiere kein Nein.«
Der Klang der unbekannten Stimme ließ sie erschaudern. Als sie sich umdrehte, stach eine Nadel seitlich in ihren Hals. Ehe sie sich noch richtig fürchten konnte, gaben ihre Knie nach, und der Schotterbelag der Gasse bohrte sich in ihre nackten Beine.
Alles um sie herum drehte sich. Grobe Hände packten sie unter den Achseln, und der Fremde zerrte sie durch die Gasse. Einer ihrer hohen Absätze verfing sich in einem Schlagloch, und sie verlor den Schuh. Das Letzte, was sie wahrnahm, war die Tür der Bar, die vor ihren Augen langsam verschwamm.
11
Donnerstag, 6. Oktober, 5:00 Uhr
Angie verbrachte eine unruhige Nacht. Sie träumte davon, ihren eigenen Sohn im Arm zu halten. In dem Traum drückte sie das Baby fest an sich und sog den Duft nach Milch und Babypuder ein, der an der samtweichen Haut hing. Sie streichelte sein blondes Haar und beobachtete, wie er an seiner winzigen Faust nuckelte. Sie war voller Staunen darüber, wie vollkommen er war und wie perfekt er sich in ihren Arm schmiegte.
Um vier Uhr morgens erwachte sie und setzte sich im Bett auf. Sie sah ihre leeren Arme, und ein Gefühl von Trauer und Einsamkeit schnitt ihr ins Herz.
Früher war sie bei solchen Gelegenheiten aufgestanden und in die Küche gegangen, um sich ein Glas Wein zu holen. Auch jetzt stellte sie sich vor, wie die liebliche, kühle Flüssigkeit durch ihre Kehle rann und ihren Körper wärmte.
Angie schwang die Beine aus dem Bett. Den Wein hatte sie vor gut einem Jahr aus ihrem Leben verbannt, und an den meisten Tagen fehlte er ihr nicht. Es war nur in Momenten wie diesem …
Sie blickte auf die Uhr. Das Fitnessstudio würde in einer halben Stunde öffnen. Sie hatte nicht vor sechs Uhr trainieren wollen, aber das war jetzt egal. Sie konnte ganz früh dort sein, vor dem Typ, der ihre Bahn okkupiert hatte, und ein paar Extrarunden schwimmen.
Sie zog ihren Badeanzug an, schlüpfte in Jogginganzug und Flipflops und packte die Kleider ein, die sie sich am Vorabend zurechtgelegt hatte.
Als sie im Auto saß, ließ sie den Motor an, schaltete das Radio ein und wartete darauf, dass die Heizung die beschlagene Windschutzscheibe
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