So unerreichbar nah
eventuell noch eingeflochten, dass Verliebtheit
und Begierde eigentlich einen chemischen Zustand darstellen, bei dem lediglich
die Hormone verrücktspielen. Und dass man diesen Wahn durch Selbstbeherrschung
und räumlicher Trennung von besagtem Mann mit der Zeit prima in den Griff
bekam.
Bis ich Lucas
zum ersten Mal sah, hatte ich selbst an diesen Mist geglaubt. Jetzt nicht mehr.
Ich steckte in einer gewaltigen Zwickmühle. Wie um alles in der Welt sollte ich
mich von ihm fernhalten, ohne Lisa die Wahrheit zu gestehen?
Hey, Süße,
ich behandle deinen Freund nur deshalb so cool, weil mir bei seinem Anblick jedes
Mal siedend heiß im Unterleib wird. Halt ihn um Gottes Willen fern von mir,
sonst garantiere ich für nichts.
Niemals!
Womöglich erzählte sie es ihm weiter und dann würden sie sich beide köstlich
über meine verirrten Hormone amüsieren? Oder mich gar bemitleiden?
Ich krümmte
mich innerlich bei dieser Vorstellung.
Und wie zum
Teufel sollte ich eine räumliche Trennung zwischen Lucas und mir herbeiführen,
wenn Lisa ihre Wohnung im gleichen Haus wie ich hatte und großen Wert darauf
legte, dass wir immer wieder etwas zu viert unternahmen?
Es gab kein
Entrinnen. Es sei denn, ich würde meine Zelte hier komplett abbrechen und
auswandern. Ob Afrika weit genug weg wäre? In einer der großen Hilfsorganisationen
würden sie mich mit Handkuss nehmen. Angesichts der vielen traumatisierten
Menschen in den dortigen Krisengebieten waren ausgebildete Psychologen sehr
gefragt.
Der Haken
daran war nur: Ich wollte nicht weg. Ich liebte Paul (wirklich?), ich liebte
meine kuschelige Wohnung und ich liebte - trotz Franziska - meine Arbeit in der
Praxis. Afrika oder andere Krisengebiete lockten mich aufgrund meiner
ausgeprägten Bequemlichkeit überhaupt nicht. Ich wollte weder auf mein weiches
Bett, meine Heizung, meine morgendliche Dusche noch mein geliebtes Auto
verzichten. Ganz zu schweigen von den sonstigen Annehmlichkeiten einer
Großstadt mit Restaurants, Theater, Kino und Einkaufsmöglichkeiten. Von Lisa
wollte ich auch nicht weg.
Und schon gar
nicht von Lucas. Womit wir wieder beim Thema waren…
Drei Wochen
später hatte ich Alicia soweit, dass wir von ihrer Wohnung aus zum ersten Mal
mit der Straßenbahn in die Innenstadt fuhren. Ich hielt mich zwar in Sichtweite
von ihr auf, ließ sie jedoch bewusst alles, vom Lösen der Fahrkarte übers Einsteigen
und einen Sitzplatz suchen, allein machen. Sie hatte sich gut gekleidet, trug
eine schicke Steppjacke mit Pelzbesatz am Kragen über ihren hautengen Jeans und
den Stiefeletten mit Plateausohle, wirkte aber sehr blass um die Nase.
Die anderen
Fahrgäste nahmen nicht groß Notiz von ihr. Lediglich ich wusste, was es sie für
eine enorme Überwindung kostete, sich unter so vielen anderen Menschen, dazu
noch auf sehr engem Raum, aufzuhalten. Immer wieder blickte sie hilfesuchend zu
mir und ich nickte ihr unauffällig beruhigend zu.
Ich stand
nahe der mittleren Eingangstür an eine Stange gelehnt, während sie zwei
Sitzreihen weiter neben einer älteren Dame Platz gefunden hatte. Diese war
offensichtlich auf ein Gespräch aus; ich sah, wie sie lebhaft auf Alicia einsprach
und dabei freundlich lächelte.
Gut so, das
würde meine Patientin von ihrer Panik und den Gedanken daran ablenken. Ich
entspannte mich ebenfalls und wurde unfreiwillig Zeuge eines wichtigen Handytelefongesprächs.
Ein junger
Mann neben mir in Kapuzenshirt und Hosen, bei denen der Schritt auf Kniehöhe
hing, war offensichtlich gerade dabei, sich fernmündlich von seiner Freundin zu
trennen.
»Ey,
Schnecke, isch kann so nischt mehr weitermachn. Du musst das verstähn, ey, isch
lieb die Nina einfach mehr als disch.«
Er lauschte
dem aufgeregten Gequake am anderen Ende, verzog gequält das Gesicht, zog
geräuschvoll seinen Naseninhalt hoch und wartete ab, bis seine
Gesprächspartnerin Luft holen musste, um das Wort wieder an sich zu reißen.
Kurz und bündig beschied er ihr:
»Ey, jetzt
beruhig disch ma, is alles im grünen Bereich. Du weißt jetz Bescheid, also hör
auf zu flenn. Machs gut, vielleicht sieht man sisch.«
Befriedigt
darüber, dass er das so einfühlsam hinbekommen hatte, drückte er das Gespräch
weg, grinste fröhlich in die Runde der unfreiwilligen Zuhörer und steckte das
Handy in die Hosentasche.
Ey, so
einfach war das! Wobei die Ex-Schnecke dieses mitfühlenden jungen Mannes ja
noch von Glück sagen konnte, dass er wenigstens mit ihr persönlich gesprochen
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