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So unselig schön

So unselig schön

Titel: So unselig schön Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Löhnig
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die er in der Brauerei verloren und erst wieder entdeckt hatte, als er Nadine … als er die Leiche … als er … nicht er: Der andere in ihm hatte das getan. Der andere.
    Er atmete durch und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Sie hatte das fotografiert! Und dann von ihrem Freund das schlechte Foto verbessern lassen, und dann … dann hatte sie den Namen im Internet recherchiert … und zum Telefon gegriffen … hatte eine Lügengeschichte …
    Die Wahrheit drang in sein Bewusstsein wie ein Pfeil in sein Ziel, traf ihn unvermittelt. Vicki Senger war Viktoria Mohn. Vicki, wie Vicki Leandros.
    Eine Lügnerin!
    Er war auf der Suche nach Gewissheit hier eingebrochen. Auf der Suche nach einer Gewissheit, von der er gehofft hatte, es gäbe sie nicht.
    Sie spielte mit ihm. Doch er würde nicht länger mitspielen, sich nicht mehr wie eine Schachfigur hin und her schieben lassen.
    Janus, der Gott des Anfangs und des Endes. Bis zum Morgengrauen hatte er darüber nachgedacht und war vorbereitet.
    Wie betäubt schob er den Stuhl zurück und erhob sich. Seine Botschaft wollte er würdig präsentieren. Er sah sich um und entschied sich für das Bett. Nachdem er die Kissen aufgeschüttelt, das Laken straffgezogen, die Decke gefaltet und glattgestrichen hatte, zog er das Kuvert aus der Brusttasche und holte die Blume hervor, die er eigens für diesen Zweck im Botanischen Garten gepflückt hatte. Er legte sie auf das Kissen.
    Das Bild gefiel ihm nicht. Auf dem buntgemusterten Bezug kam die Blüte nicht zur Geltung.
    In einer Kommode entdeckte er weiße Bettwäsche, die nach Mottenkugeln roch. Ein handgeschriebenes Preisschildchen war mit einer Stecknadel darauf befestigt. Fünf Euro. Sicher hatte sie das auf dem Flohmarkt gekauft.
    Zehn Minuten später strahlte das Bett in frischer Unschuld, der Geruch nach Naphthalin lag in der Luft und die welkende Blüte auf dem Kopfkissen, knapp unterhalb eines Lochstickereisaums. Weißes Leinen, schwarze Anemone. Ein dramatisch schönes Bild.
    Er rückte sich den Korbstuhl ans Fenster und sah in den Garten. Die Stunden vergingen, während der Regen in feinen Fäden an der Scheibe herablief.
    Wohin sollte er gehen? Er fror, ihm war kalt, obwohl das Thermometer an Fensterrahmen zweiundzwanzig Grad anzeigte.
    Die Schildkröte schob ihren runzligen Kopf aus dem Panzer, zwinkerte mit den Augen, als sei es zu hell im Zimmer, und bewegte sich dann langsam zum Wassernapf.
    Eine Zukunft gab es für ihn nicht mehr. Nur noch Vergangenheit. Er hatte ihr nichts mehr entgegenzusetzen, ihre Bilder bemächtigten sich seiner.
    Diese tastende Hand, die ihn berührte, wo er nicht berührt werden wollte, diese schlagende Hand. Haut an Haut, der Duft nach Bergamotte, Sandelholz und Ambra … Schmerz drückte seine Brust zusammen, floss wie ein kalter Strom durch seine Adern, pochte hinter den Schläfen, wie ein Tier, das in Freiheit drängte.
    Verzweifelt beschwor er die magischen Erinnerungen herauf: sah die Schaukel schwingen, den Drachen fliegen, Kerzen auf dem Kuchen flackern, buntes Geschenkpapier, sah Seifenblasen steigen und sah, wie sie mit ihm Kastanienigel bastelte, Eichelmännchen, Rindenschiffchen. Ihre Hand … seidige Haut … nackte Brüste, die ihn beinahe erstickten …
    Keuchend fuhr er auf.
    Wieder war er in der Eiswüste angekommen.
    Eine Blutspur markierte seinen Weg.
    Nicht seinen. Den des anderen.
    Er ließ den Kopf auf die Knie sinken, während ein verschwommener Gedanke durch das Dickicht der Erinnerungen schoss. Er eilte ihm nach, bekam ihn zu fassen. Vielleicht waren diese Erinnerungen, die ihn seit zwei Tagen bedrängten, gar nicht wahr! Vielleicht waren es Trugbilder, die ihm etwas zeigten, das nie geschehen war. So etwas gab es doch. Die Kraft der Suggestion oder Hypnose. Implantierte Erinnerungen.
    Erleichtert wollte er aufatmen. Doch er wusste, dass es nicht so war.
    Der Schmerz war unerträglich. Er hatte sie geliebt, er liebte sie noch immer. Und sie? Sie, diese wunderbare Frau, hatte ihn verraten, misshandelt, missbraucht. Doch das durfte nie jemand erfahren. Ihr Name durfte nicht beschmutzt werden, und seine Schande niemals offenbar … seine Taten …
    Janus, der Gott des Anfangs und des Endes.
    Ein Schlüssel wurde ins Schloss der Wohnungstür gesteckt und knirschend umgedreht.
    ***
    Wie roch es denn hier? Vicki schnupperte. Wie in alten Kleiderschränken, dachte sie, warf den Rucksack in die Ecke und ging ins Zimmer.
    Zweierlei nahm sie beinahe zur gleichen Zeit wahr. Die

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