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So unselig schön

So unselig schön

Titel: So unselig schön Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Löhnig
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Zeigefinger. »Ich weiß nur noch nicht, weshalb er das tut.«
    ***
    Vicki steckte das Handy ein. Was genau hatte Dühnfort ihr eigentlich sagen wollen? Dass sie in Gefahr war? Wenn er beabsichtigt hatte, ihr Angst zu machen, dann war ihm das gelungen.
    Kritisch musterte sie die Leute, die nach und nach ins Wartehäuschen drängten. Niemand, den sie kannte, keiner, der sie beobachtete. Ein knutschendes Pärchen, ein paar graue Businesstypen, eine Mutter mit Kinderwagen, ein älterer Mann mit viel zu großen Ohren, dem die Brille schief auf der Nase saß. Eine junge Frau, deren Speck zwischen Hüfte und Shirt aus den zu engen Klamotten quoll.
    Jetzt kam noch ein Dicker den Bahnsteig entlanggewatschelt. Ein echter Koloss. Der Stoff seiner Jeans rieb bei jedem Schritt an der Innenseite der Oberschenkel und gab dabei ein schabendes Geräusch von sich. Dieser Berg von Mensch schob sich direkt neben Vicki unter das Dach des Häuschens und beanspruchte den letzten Rest an Platz.
    Wenn jemals ein Deo versagt hatte, dann seines. Die Frau mit den zu knappen Klamotten verdrehte die Augen. Vicki gab ihrem Fluchtimpuls nach und trat vor das Häuschen. Lieber nass als erdrückt.
    Am Beginn der langgezogenen Kurve zwischen den Stationen Neuperlach Süd und Perlach tauchten die Lichter der S-Bahn auf. Sie war pünktlich. Ein wahrhaft seltenes Ereignis. Der feine Regen setzte sich in Vickis ohnehin feuchte Haare, lief an den Schienbeinen entlang bis in die Gummistiefel. Na, das würde dann super müffeln. Gummimiefel, dachte Vicki.
    Der Treppenaufgang zum Bahnsteig war überdacht. Dort stand jemand, der nun das schützende Vordach verließ und den Bahnsteig entlang geradewegs auf sie zuging. Groß, schlank, eine vom Regen verwische Silhouette, die ihr vertraut vorkam. Ein orangeroter Klecks leuchtete aus dem Grau hervor. Ihr Herz schlug ein ganz klein wenig schneller, und die Schmetterlinge im Bauch erwachten, begannen zu flattern, je näher er kam. Jobst. Das Grübchen an seinem Kinn schien tiefer, das Grün seiner Augen dunkler, das Lächeln wie weggewischt.
    Das Rattern der S-Bahn wurde lauter. Hinter ihr traten die Leute aus dem Wartehäuschen.
    In jeder Hand hielt er eine Mohnblume, deren Blütenblätter regenschwer auseinanderfielen. Sie wollte fragen, was er hier mache, doch etwas schnürte ihr die Kehle zu. Der Lärm der einfahrenden S-Bahn, das einsetzende Quietschen der Bremsen, der nahende Luftstrom.
    Sein Blick hielt ihren fest. Er stand so nah vor ihr, dass sie die Regentropfen in seinen Haaren sah, den Geruch nach feuchter Kleidung wahrnahm, ja die Wärme seines Körpers zu spüren meinte. »Eine für dich und eine für mich«, sagte er und reichte ihr eine der Blumen. Verdutzt betrachtete sie die Blüte in ihrer Hand und folgte dem Fallen eines Blütenblattes, das sich gelöst hatte und leuchtend auf dem nassen Pflaster liegen blieb.
    Sie blickte auf, fing seinen Blick noch für einen Augenblick ein, als er sich wegdrehte. Dann sah sie Jobst kippen, stürzen, fallen, vernahm das kreischende Quietschen der Bremsen, einen dumpfen Aufprall, hörte die Frau neben sich schreien, spürte Regen über ihre Lippen laufen, aus ihren Haaren tropfen, über ihren Hals rinnen. Alle, die sie liebte … Alle, die sie liebte …
    ***
    Die Nacht stand wie eine schwarze Mauer vor dem Fenster. In der Scheibe sah Dühnfort sein gespiegeltes Büro. Gina, die am Türstock lehnte, Alois, der seine Krawatte abgelegt und den obersten Hemdknopf geöffnet hatte. Nein, er fühlte keinerlei Triumph oder gar Stolz. Wenn er eine Minute früher den Bahnsteig erreicht hätte … Wernegg hätte das weder sich noch Vicki Senger antun können.
    Ihre Chefin hatte sie gerade abgeholt. »Du bleibst heute Nacht nicht allein, du kommst mit zu mir«, hatte Clara Mohn gesagt. »Und morgen rufe ich meine Freundin an, diese Psychotante. Ich weiß, dass du sie so nennst. Aber du wirst sie brauchen. Keine Widerrede.«
    Hinter der Fassade von Bestimmtheit hatte er Sorge und Angst gespürt. Der bisher so lebhaften Vicki schienen die Worte ausgegangen zu sein. Einsilbig, apathisch hatte sie die nötigsten Fragen beantwortet und dabei den Stängel des Klatschmohns zwischen den Fingern gedreht. Ein nackter Stiel, ein kahler Fruchtknoten mit einer kronenähnlichen Kapsel, die schwarzer Flaum zierte.
    Sie hatte sich in Wernegg verliebt und verstand nicht, weshalb er das getan hatte. Noch dazu vor ihren Augen.
    Eine Minute nachdem Wernegg sich vor die einfahrende S-Bahn

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