So unselig schön
Wieder nahm sie die Pinzette zur Hand und deutete auf die feine Blutspur, die sich bis zum Hinterkopf zog.
Ging es ihm darum, um das Blut? Wofür brauchte der Täter es? Dühnfort fragte, ob es DNS -Material gebe.
Lieske meldete sich zu Wort. Er war ein untersetzter Mittdreißiger mit hoher Stirn und fahlem Teint. »Unter den Fingernägeln gibt es Hautpartikel, hoffentlich ist die Menge ausreichend für eine Analyse. Auf ein Sexualdelikt deutet bisher nichts hin. Jedenfalls habe ich kein Sperma gefunden und auch keine Verletzungen im Brust- und Genitalbereich oder am Anus. Aber wir sind ja noch nicht fertig.«
Die Tür zum Sektionssaal öffnete sich. Leyenfels trat ein. Mit beinahe zwei Meter Größe war der Staatsanwalt nicht zu übersehen. Wie die meisten großen Menschen hatte er sich einen leicht gebeugten Gang angewöhnt. Gemessenen Schritts ging er an den Tischen vorbei, begrüßte erst Ursula Weidenbach und nickte dann in die Runde. »Wie sieht es aus?«
Die Rechtsmedizinerin erklärte ihm den Stand der Untersuchung und ihre Rückschlüsse auf den Tathergang.
»Können Sie etwas zum Todeszeitpunkt sagen?«
Ursula Weidenbach zuckte die Schultern. »So schön auf die Stunde genau klappt das nur in Fernsehkrimis. Zwischen achtundvierzig und sechzig Stunden vor Auffinden der Leiche. Also irgendwann am Samstagnachmittag oder in der folgenden Nacht.«
Dühnfort fuhr aus seinen Überlegungen hoch, wandte sich an Weidenbach und bat sie, sich darum zu kümmern, dass der Kopf kosmetisch aufbereitet und fotografiert wurde.
Leyenfels ließ das leise Schnauben vernehmen, das er immer dann ausstieß, wenn ihm etwas missfiel. »Das kostet. Wurden denn Fingerabdrücke und DNS -Probe schon genommen?«
Lieske nickte. Aber die Ergebnisse würden erst morgen gegen Abend vorliegen.
»Warten Sie den Abgleich mit der Datenbank ab«, meinte Leyenfels an Dühnfort gewandt.
»Diese junge Frau ist seit beinahe drei Tagen abgängig, und niemand scheint sie zu vermissen. Je länger ihre Identität ungeklärt bleibt, umso schwieriger werden die Ermittlungen. Das brauche ich Ihnen doch nicht zu erklären. Wenn sie bis heute Abend nicht identifiziert ist, müssen wir mit einem Bild an die Öffentlichkeit. Wir können es uns nicht leisten, einen weiteren Tag zu verlieren.«
Bedächtig verschränkte Leyenfels die Arme hinter dem Rücken und ließ den Blick über die Anwesenden wandern. Dühnfort sah förmlich, wie er das Für und Wider abwog. Eine ermordete junge Frau war für die Medien interessanter als eine getötete Greisin. Sollten die Ermittlungen nicht zügig vorankommen, würde die Presse sich bereitwillig darauf stürzen. »Meinetwegen.«
Über Weidenbachs Gesicht huschte ein kaum wahrnehmbares Schmunzeln. »Ich veranlasse das. Fotos, einen vorläufigen Bericht und das Zahnschema bekommen Sie noch heute.«
***
Er hat das nicht zum ersten Mal gemacht, dachte Dühnfort, als er Richtung Eingang ging, und fragte sich, woher er plötzlich diese Sicherheit nahm. Dühnfort setzte sich auf eine Bank in einer Nische, zog das Handy hervor und rief Alexander Boos an, den Leiter der Abteilung Operative Fallanalyse, kurz OFA genannt. »Kannst du in Vi CLAS etwas für mich recherchieren?«
»Sicher. Worum geht es?«
Dühnfort schilderte ihm den Fall und sagte zu, alles, was sie an Material hatten, an die OFA zu übermitteln.
»Bisher also kein Hinweis auf ein Sexualdelikt«, meinte Alexander Boos. »Der Täter hat wesentlich mehr getan, als nötig gewesen wäre, um dem Opfer das Leben zu nehmen. Diese Übertötung deutet eigentlich auf einen sexuellen Kontext hin. Gut, wir werden nach Vergleichsfällen in Vi CLAS suchen.«
Diese Datenbank war eigens für Taten im Bereich der schweren Gewaltkriminalität eingerichtet worden. Dort wurden sie erfasst, strukturiert und auf Serienverdacht überprüft, wodurch mögliche Tatzusammenhänge auch überregional aufgezeigt werden konnten.
Dühnfort dankte Boos und machte sich auf den Rückweg ins Präsidium. Dabei kam er an einem Reisebüro vorbei, und für einen Augenblick dachte er an seinen Urlaub, den er ab August nehmen wollte. Zwei Monate Auszeit für einen Segeltörn durch die Nordsee und den Ärmelkanal bis zu den Îles d’Ouessant und weiter nach Brest. Er freute sich darauf und hoffte, so auch den letzten Rest seiner nicht geglückten Beziehung zu Agnes hinter sich zu lassen, sie sich auf der Weite des Meeres endgültig aus dem Kopf zu schlagen. Seit beinahe acht Monaten hatte er
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