So unselig schön
Schildkröte.
Adrian war tot.
Sie hatte diese unumkehrbare Wahrheit akzeptiert. Diese Sekunde in ihrem Leben, die nicht rückgängig zu machen war. Sooft sie sich auch gewünscht hatte, diesen Film, der auf ewig in einer Kammer ihres Hirns laufen würde, zurückdrehen zu können, zu erkennen, was gleich geschehen musste, Adrian ein Zeichen zu geben oder zu schreien, ihn irgendwie zu stoppen und so dieses Ende abzuwenden.
Er hatte nur sie gesehen. War an der Metrostation Châtelet auf sie zugelaufen, über diesen Bahnsteig, auf dem sich die Menschen drängten, vorbei an der Mutter mit dem kleinen Jungen und seinem Roller. So nah an der Kante. Sein Blick den ihren haltend, lachend, während sie von hinten den kühlen Luftzug der einfahrenden Metro gespürt und gedacht hatte, wie sehr sie ihn liebte.
Doch die Zeit bewegte sich lediglich in eine Richtung, wie ein Pfeil ins Ziel.
Es war ja nicht das erste Mal in ihrem Leben. Zuerst ihre Mutter, dann Oma, dann Adrian. Alle, die sie liebte, starben.
Ihre Mutter, diese dämliche Kuh, hatte sich einfach aus dem Leben davongemacht, als hätte sie kein Kind, das sie brauchte und liebte. Manchmal war Liebe eben eine Einbahnstraße.
Mist! Nun brannten ihr die Augen, und sie spürte einen Druck im Hals. Mit einem Ruck stand Vicki auf. Verdammt! Das war alles Schnee von gestern. Inzwischen lebte sie schon länger ohne Mutter als mit. Auch Omas Tod hatte sie überstanden und sogar den von Adrian. Sie hatte es überlebt, irgendwie, und war dabei erwachsen geworden, und falls irgend so ein dämlicher Gott, oder wer auch immer da oben die Strippen zog, glaubte, er könne ihr ständig eins überbraten und sie so ausbremsen, hatte er sich geschnitten. Sie würde durchziehen, was sie sich vorgenommen hatte. Auch weil Adrian sich das gewünscht hätte. Sie würde ihre Ausbildung beenden, und zwar mit einem Superzeugnis. Sie wollte, dass er stolz auf sie wäre, dass all das, was er in ihr gesehen und an ihr geliebt hatte, zum Vorschein käme. Sie würde so verdammt bürgerlich werden, wie es nur ging. Genau. Das würde sie tun und sich durch nichts davon abbringen lassen. Und deshalb musste sie jetzt lernen und ihr Berichtsheft auf Vordermann bringen.
Schließlich hatte sie diese Frau ja nicht einmal gekannt, hatte nur ihre Hand gesehen. Es war nicht zu ändern.
Der Knödel im Hals löste sich auf. Vicki stand auf und nahm Epiktet mit hinein.
Warte einen Augenblick auf mich, liebe Empörung. Adrian und sein griechischer Philosoph Epiktet hatten recht. Es gab Dinge, die waren unveränderbar, es hatte keinen Sinn, sich darüber aufzuregen. Sie hatte ihr Päckchen zu tragen, und seit Paris wusste sie, dass sie auch die Kraft dazu besaß, woher auch immer sie kam. Vielleicht von ihrem Vater. Das stellte sie sich jedenfalls gerne vor, wenn sie versuchte ihn sich auszumalen. Vielleicht würde sie auch irgendwann zu dieser inneren Ruhe finden, von der Epiktet gesagt hatte, sie sei die Voraussetzung, um glücklich zu sein.
Wie immer, wenn ihre Gedanken an diesem Punkt anlangten, machte sich diese dämliche Furcht bemerkbar. Du darfst nur alleine glücklich sein. Alle, die du liebst, sterben. »Schmarrn«, sagte sie und setzte Epiktet in sein Terrarium.
In den nächsten anderthalb Stunden ergänzte sie den Eintrag über das neue Buchungssystem in ihrem Berichtsheft und wiederholte zwei Einheiten Reiseverkehrsspezifische Prozesse .
Dann schaltete, sie den Fernseher ein, zappte herum und landete schließlich bei einer Nachrichtensendung von MünchenPlus . Sie wollte schon weiterschalten, als sie im aktuellen Beitrag die alte Brauerei erkannte. Er dauerte nur etwa eine halbe Minute, und beim letzten Kameraschwenk sah Vicki sich, wie sie gemeinsam mit diesem Fünfanger zum Auto ging. Echt ätzend. Der Sprecher erklärte, das Opfer sei noch nicht identifiziert worden. Daher bäte die Polizei die Bevölkerung um Mithilfe. Vicki schaltete aus, bevor das Bild der Frau eingeblendet wurde.
Es reichte schon, dass diese Gina Angelucci heute im Reisebüro aufgetaucht war. Nun wussten alle von Vickis Leichenfund. Clara war besorgt gewesen, Henriette neugierig, und Steffen hatte ihr mitfühlend berichtet, wie er im Wald einmal beim Joggen über einen toten Fuchs gestolpert war.
Vicki legte die Fernbedienung weg und startete den Computer. Im Maileingang war eine Nachricht von Kai. Er hatte die Parisbilder gesehen und fand sie absolut cool . Sag mal, kann ich dich deswegen ein wenig quizzen? Im August
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