So unselig schön
Grauen entgegen, hörte immer wieder diesen hoffnungsvollen Ton, wissend, dass die Hoffnung, diese göttliche Tugend, nicht obsiegen würde, dass sie die Illusion war, die einen am Leben hielt.
Mit der Pinselspitze nahm er eine winzige Menge Mineralbraun auf, dunkelte es mit Elfenbeinschwarz ab, setzte den Pinsel auf die Leinwand und akzentuierte mit einem Strich eine der dunklen Locken, gab ihr Tiefe, bis sie sich wie eine Natter über das polierte Holz zum Fuß der Kristallvase wand, während in der Bildmitte der weiße Körper auf Vollendung wartete.
Seine Hand zitterte kaum merklich. Die Unruhe war wieder im Begriff, sich in ihm auszubreiten. Wie eine Ankündigung von Unheil zog sie in ihm herauf. Er wusste nicht, woher sie kam. Er wusste nur, dass er sie nicht ertragen konnte und er sie daher mit einer Reihe von Ritualen bannen musste.
Jahrelang war das gutgegangen, aber in letzter Zeit versagten diese Mechanismen zusehends, gaben nach wie Deiche, die langsam unterspült wurden. Immer leichter gelang es ihr, sich in ihm auszubreiten. Dann tigerte er durchs Atelier, war gereizt und wütend und wusste nicht, warum.
Er trat zurück, starrte auf das lange noch nicht vollendete Bild, spürte die Nervosität durch seine Adern fließen, legte Pinsel und Palette beiseite. Etwas vibrierte in ihm. Er setzte sich in den Sessel, schaltete die Musik aus und versuchte sich zur Ruhe zu zwingen.
In der Unruhe verbarg sich die Wut, die ihn dazu trieb, das zu tun, was er tat, und auf dieses Tun hatte er keine Antwort. Da war nur die Angst, dass hinter der Wut der Schmerz lauerte. Ein namenloser Schmerz, von dem er wusste, dass er ihn nicht ertragen konnte.
M ITTWOCH , 9. J UNI
Dühnfort schlief in dieser Nacht schlecht. Um kurz nach fünf stand er auf und betrat bereits um halb sieben sein Büro. Genau in dem Moment, als das Handy in seiner Tasche zu läuten begann. Ein Kollege namens Rinke von der Polizeiinspektion Vaterstetten meldete sich. Ein Bäcker hatte auf dem Heimweg von der Nachtschicht in einem stummen Verkäufer die Zeitung gesehen und die schöne unbekannte Tote auf der Titelseite erkannt.
Fünf Minuten später war Dühnfort auf dem Weg nach Vaterstetten. Er fuhr durch den dichter werdenden Berufsverkehr stadtauswärts und wechselte am Ostkreuz auf die A 99 Richtung Süden. Am Horizont verschleierte feiner Dunst die Alpengipfel, im Westen erhob sich die Silhouette der Messestadt, während sich im Osten blühende Felder und Wiesen ausbreiteten. An der nächsten Ausfahrt verließ Dühnfort die Autobahn und erreichte den Ort.
Ihren dörflichen Charme hatte die Gemeinde in den vergangenen Jahrzehnten verloren. Inzwischen war er zur Vorstadt mit über zwanzigtausend Einwohnern angewachsen.
Das Navigationsgerät dirigierte Dühnfort zwischen Bauernhöfen, einer Reihenhaussiedlung aus den siebziger Jahren und modernen Ein- und Mehrfamilienhäusern hindurch, bis er die Polizeistation erreichte. Sie war in einem funktionellen Flachbau aus den sechziger Jahren untergebracht, eine asphaltierte Fläche erstreckte sich davor und eine Reihe von Bäumen dahinter. Auf dem Parkplatz stand ein grüner Ford Fiesta, daneben zwei Streifenfahrzeuge.
Dühnfort betrat das Gebäude. Hinter dem Empfangstresen saß an einem ramponierten Schreibtisch ein Kollege, der nun aufblickte.
Dühnfort stellte sich vor. »Herr Rinke?«
Der Mann erhob sich. Er war etwa fünfzig und von drahtiger Figur, das Gesicht wettergegerbt, die Haare graumeliert und kurz geschnitten. Er begrüßte Dühnfort mit einem kräftigen Händedruck. »Herr Hähnel kam kurz nach sechs zu uns. Er glaubt, dass die Tote aus der Zeitung seine ehemalige Freundin ist. Nadine Pfaller.«
»Wie geht es ihm? Steht er unter Schock, oder kann man mit ihm reden?«
»Bis jetzt ist er ganz gefasst. Er wartet im Nebenzimmer. Eine Kollegin ist bei ihm.« Rinke ging voran.
In dem spärlich möblierten Raum roch es nach Kaffee und alten Akten. An einem quadratischen Tisch saßen eine junge Polizistin mit blondem Pferdeschwanz und ein übernächtigt aussehender Mann von Ende zwanzig, der auf seine Hände starrte. Ein Kaffeebecher stand vor ihm. Nun sah er hoch. In seinen Augen lag ein Ausdruck, den Dühnfort kannte: die Hoffnung, dass alles nur ein Irrtum war, der sich nun gleich aufklären würde. Dann würde die Welt sich weiterdrehen, man würde Luft holen und tief durchatmen. Dann wäre die Erleichterung so groß, dass man den Schrecken vergaß, sich wieder lebendig fühlte
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