So unselig schön
Hochzeit seines Bruders Julius, also vor beinahe fünf Jahren. Da standen sie nun an seinem Krankenbett, und ein Augenblick der Erkenntnis ließ ihn verstehen, was sie hier vereinte: die Sorge um das Leben ihres Kindes. Er war einundvierzig Jahre alt, aber er war ihr Kind, und das würde er für immer bleiben. Trotz allem waren sie eine Familie. Irgendein Band hielt sie zusammen. Einen Tag später war sogar Julius aus Hamburg gekommen. Und da hatte er gewusst, dass er sich niemals von seinem Traum würde verabschieden können, selbst Kinder zu haben, eine Familie zu gründen.
Er betrat ein Sportfachgeschäft nahe der Sendlinger Straße und verließ es eine halbe Stunde später wieder mit einer Tüte in der Hand. Einen Augenblick blieb er auf dem Gehweg stehen, betrachtete die vorübergehenden Passanten, das flirrende Licht, das über der Stadt lag und ihr einen goldenen Schimmer verlieh, und hatte plötzlich keine Lust, alleine zu Abend zu essen. Er wollte draußen sitzen, unter Menschen sein, Gesprächsfetzen erhaschen, Lachen hören, Leben um sich herum spüren.
Der Hauch eines vertrauten Geruchs stieg ihm in die Nase. Meer und Damaszener Rose. Sein Herz begann ein wenig schneller zu schlagen, sein Körper reagierte, noch bevor er wusste, mit wem sich dieser Duft verband. Agnes. Er sah sich um. Sie stand etwa zwei Meter von ihm entfernt, die gleiche Tüte in der Hand wie er. Ihre Blicke trafen sich. Agnes’ Augen weiteten sich. Ein offenes und auch ein wenig erstauntes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Tino? Das ist ja eine nette Überraschung.«
Die stoppelkurzen Haare waren gewachsen und zu einer asymmetrischen Kurzhaarfrisur geschnitten. Sie hatte zwei oder drei Kilo zugenommen, was ihr gut stand. Vermutlich trieb sie nicht mehr so verbissen Sport wie noch vor einem Jahr. »Grüß dich, Agnes. Neue Sportsachen gekauft?«
»Du offensichtlich auch. Eine weitere Überraschung.«
Sie trug das graugrüne Leinenkleid, das er so an ihr mochte. »Na ja, ein wenig sollte auch ich mich um meine Gesundheit sorgen. Seit einiger Zeit jogge ich.«
Ein spöttisches Lächeln huschte über ihr Gesicht und setzte sich in die Augen. »Midlife-Crisis oder haben dir die Ärzte nach dem Unfall dazu geraten?«
Dühnfort war verblüfft, dass sie davon wusste. Es hatte zwar ein kurzer Artikel darüber in einer Zeitung gestanden, aber darin war sein Name nicht genannt worden. »Während der Reha bin ich auf den Geschmack gekommen. Ich wusste gar nicht, dass du von meinem Missgeschick weißt.«
Sie standen im Weg, störten den Fluss der Fußgänger auf dem Gehweg, Passanten wichen aus. Ein dicker Mann rempelte Dühnfort an, sagte Öha und ging weiter.
»Missgeschick ist gut. Du wärst beinahe gestorben.«
Nahmen Agnes’ blaue Augen tatsächlich einen besorgten Schimmer an?
»Deine Kollegin hat mich damals angerufen …«, fuhr sie fort.
»Gina?«, fragte er überrascht, während ein Pärchen sich an ihnen vorbeizwängte.
Agnes nickte. »Sie war der Meinung, dass ich wissen sollte, dass du vielleicht den Löffel abgibst . Sie hat das wirklich so gesagt.« Diesen Worten folgte ein Lächeln.
Eine Gruppe japanischer Touristen kam den Gehweg entlang. Dühnfort trat die Flucht nach vorne an. »Wir stehen hier im Weg, und ich würde mich gerne noch ein wenig mit dir unterhalten. Darf ich dich zum Essen entführen?«
Agnes schien das Für und Wider seiner Einladung abzuwägen, denn es dauerte einen Moment, bis sie antwortete. »Warum eigentlich nicht?«
Dühnfort schlug das Prinz Myshkin vor. Es befand sich in der Nähe, und man konnte draußen sitzen. Dass es ein vegetarisches Restaurant war, störte Agnes nicht. »Klingt doch gut«, sagte sie und berichtete ihm auf dem kurzen Weg dorthin, wie Gina sie im vergangenen Herbst über den Unfall informiert und sie gebeten hatte zu kommen. »Sie hat gehofft, meine Anwesenheit oder meine Stimme würden dich aus dem Koma holen. Leider war mein Einsatz erfolglos. Hat sie dir das nicht erzählt?«
Mit keinem Wort. Aber es passte zu ihr. Gina gab nie auf, war immer kämpferisch und dabei auf eine seltene Art bescheiden.
Sie erreichten das Restaurant und hatten Glück. Ein Tisch vor dem Lokal wurde gerade frei. Sie bestellten Pasta, Salat, Wasser und zwei Gläser Soave und genossen ihr Essen an diesem lauen Frühsommerabend.
Das Gespräch drehte sich zunächst um Agnes. Sie war Graphikerin und hatte sich nach dem Tod ihres Mannes und ihrer Tochter selbständig gemacht. Mittlerweile
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