Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
So unselig schön

So unselig schön

Titel: So unselig schön Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Löhnig
Vom Netzwerk:
War er von ihr womöglich emotional oder finanziell abhängig?
    Es war schon nach neun, als Dühnfort hungrig und durstig seine Wohnung betrat. In der Küche trank er erst ein Glas Leitungswasser, entkorkte dann eine Flasche gut gekühlten Soave und setzte sich mit seinem Abendessen, das er im Gandl eingekauft hatte, auf den Balkon.
    Es wurde bereits dämmrig, die Luft kühler. Der Kies knirschte unten auf dem Weg, der durch den Friedhof führte. Eine Frau in Shorts und ärmelloser Bluse fuhr auf einem Rad vorbei, blickte nach oben, entdeckte ihn und lächelte. Er lächelte zurück. Wieder stieg die Erinnerung an Gina in ihm auf, der Kakao auf der Lippe, die Sommersprossen auf der Nase, ihr Lächeln, ihre Spontaneität, ihr schelmischer Blick. Für einen Moment glaubte er ihren Apfelduft zu riechen, und eine schmerzvolle Sehnsucht wollte nach ihm greifen. Er stand auf und lehnte sich ans Geländer. Woher kamen diese Gefühle, die er nicht zulassen wollte?
    Vermutlich war es die Angst, alleine alt zu werden. Weshalb zögerte er, auf Agnes zuzugehen? War nicht sie die Frau, mit der er sein Leben verbringen wollte? Scheute er das Risiko eines erneuten Scheiterns? Er wusste es nicht und verspürte wenig Lust, weiter in den komplizierten Windungen seines Seelenlebens zu stochern.
    Ein Eichhörnchen huschte über das Grab des Musikers und verschwand in Windeseile im Geäst einer alten Buche. Dühnfort setzte sich wieder und griff nach dem Weinglas.
    Er aß Antipasti und Ciabatta und entspannte sich allmählich. Eine wohlige Müdigkeit ergriff Besitz von ihm, die aber nur so lange anhielt, bis die Bilder wieder durch seinen Kopf zu ziehen begannen. Die schmale Hand, die rosa lackierten Nägel, der totenstarre Blick und die fliederfarben getupften Flügel des Schmetterlings. Dieser Schmetterling. Was hatte er zu bedeuten?
    Eigentlich wollte er nicht aufstehen, tat es dann aber doch und nahm das Weinglas mit hinein. Ein halbe Stunde suchte er im Internet, ohne eine Information zu finden, die ihm weiterhalf. Bis ihm klar wurde, dass er die Suche falsch begonnen hatte. Er benötigte keine Information entomologischer Art. Er hatte die Vermutung, dass der Schmetterling eine Bedeutung hatte, eine Art Symbol war. Dühnfort setzte die Recherche fort, bis er auf den Artikel eines Kunsthistorikers über die Symbolik der Natur in der Kunst stieß, in dem auch die Darstellung von Schmetterlingen abgehandelt wurde. Demnach waren sie in der Antike Sinnbild für Unsterblichkeit und Wiedergeburt gewesen, in der christlichen Kunst symbolisierten sie die Auferstehung, und im antiken Griechenland galten sie als Seelen der Toten.
    Dühnfort sah auf. Gina hatte recht. Es war kein Zufall, dass dieser Schmetterling neben der Leiche gelegen hatte. Mit im Nacken verschränkten Händen starrte er an die Decke. Weshalb hatte der Täter einen Schmetterling neben Nadine platziert? Als Symbol der Hoffnung, das seiner Tat das Unwiderrufliche nehmen sollte, oder gar als Entschuldigung?
    ***
    Das abnehmende Licht barg ein totes Grau in sich, nahm den Farben ihr Leuchten und dämpfte das flirrende Weiß des Lakens.
    Dort, wo es weiß war.
    Seine Hand begann zu zittern. Zwei Stunden nur, und er war bereits im Begriff, den Kampf gegen die Unruhe zu verlieren. Sie stieg in ihm auf wie ein schwaches Beben, boykottierte seine Arbeit.
    Widerwillig musste er den Pinsel ablegen, trat zurück, atmete durch und ließ den Blick zwischen der Leinwand und der Vorlage pendeln. Der Faltenwurf, verstärkt durch das dramatisch gesetzte Licht, war sensationell. Wenn dieses Großmaul von Professor das Bild sehen könnte, es würde ihm die Sprache verschlagen, diesem selbstgefälligen Exzentriker, der ihn vertrieben hatte: Mach was aus deinem Talent und vergeude es nicht. Nein, er vergeudete es nicht. Ganz gewiss nicht.
    Dieses Bild würden jedoch niemals andere Augen betrachten. Es war ihm vorbehalten, ihm, der in Farbe erschuf, was ein anderer mit Worten gemalt hatte. Sein Seelenverwandter, sein Bruder.
    Nachdem er die Pinsel gesäubert hatte, setzte er sich in den abgewetzten Ledersessel, umfing die Schultern mit seinen Händen und ließ das Bild auf sich wirken. Für einige Augenblicke fühlte er sich ruhiger.
    Bereits mit siebzehn hatte er gewusst, dass er es eines Tages malen würde. In Gedanken hatte er bereits unzählige Male die Requisiten besorgt, die Kulisse erschaffen, ein Modell hineingesetzt. Lange Zeit hatte die Phantasie ausgereicht, um diese Wut zu bannen, die

Weitere Kostenlose Bücher