So unselig schön
schlenderte durch die Ausstellungsräume zurück Richtung Eingang, blickte durch die großen Fensterflächen in den Innenhof und überlegte, wie die Skulpturen wohl nachts aussahen, wenn das Mondlicht auf sie fiel. Klasse Motive. Ob man sich hier unbemerkt einschließen lassen und heimlich fotografieren konnte?
Als sie das Foyer erreichte, warf sie einen Blick auf den Platz. Wernegg war noch nicht da. Sie ging auf die Toilette. Während sie sich die Hände wusch, musterte sie ihr Gesicht im Spiegel. Die braunen Locken hatten sich in der Regenluft gekringelt und standen widerspenstig in alle Himmelsrichtungen. Ihre Augen strahlten. Wernegg war also einer, der Wort hielt. Sicher würde er keinen Rückzieher mehr machen, wenn er erst einmal das Heim besichtigt hatte.
Kein Handtuch weit und breit. Vicki wischte sich die Hände an den Shorts trocken und betrachtete die Moorleichen-Gummistiefel und die Lederjacke. Dabei dachte sie an Henriettes mahnende Worte, sie sollte was Seriöses anziehen, und schnitt ihrem Spiegelbild eine Grimasse. Es kam eben nicht darauf an, wie aufgebrezelt man war. Was zählte, war, wie man für eine Sache eintrat.
Vicki warf den Rucksack über die Schulter, verließ das Museum und sah sich um. Das einzige Auto, das am Rande der Straße hielt, war ein silberfarbener Angeberwagen. Wernegg saß hinter dem Steuer. Als er sie entdeckte, stieg er aus und reichte ihr die Hand. »Hallo, Frau Senger.«
» Das ist ja ein echt peinliches Auto.« Uuups, dachte Vicki im selben Moment, das hätte ich jetzt besser nicht gesagt. Heiß stieg ihr die Röte ins Gesicht.
Wernegg lachte. »Welch wahres Wort. Peinlich. Ich mag den Wagen auch nicht. Aber mein anderer ist in der Inspektion. Sollen wir ihn einfach stehen lassen und die U-Bahn nehmen?« In Werneggs Augen funkelte Schalk.
»Ist schon okay. Geht auf alle Fälle schneller als mit dem MVV .« Vicki verkniff sich die Frage, weshalb er das Auto gekauft hatte, wenn es ihm nicht gefiel.
»Na, dann machen wir uns auf den Weg.« Er hielt ihr die Beifahrertür auf, was Vicki seltsam berührte. Das war so was von altmodisch und trotzdem irgendwie nett, so als ob er sie wirklich ernst nähme. Wehalb sollte er das aber auch nicht tun?, fragte sie sich postwendend, warf den Rucksack in den Fußraum und stieg ein.
Während der Fahrt fragte er sie, ob sie studiere. »Ich habe nur Hauptschulabschluss, da klappt das mit dem Studieren nicht. Zurzeit mache ich eine Lehre.« Sie mochte es nicht, wenn man sich für sie interessierte, und sah aus dem Fenster. Seine taktlose Frage vom Freitag fiel ihr wieder ein, als er wissen wollte, weshalb sie im Heim aufgewachsen war.
»Stört es Sie, wenn ich Musik anmache?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Haben Sie einen Wunsch?«
Die Parallelwelterkundung stand noch auf der Tagesordnung. »Vielleicht was Klassisches. Mozart oder so? Oder Opernarien?«
Diese Antwort hatte er offensichtlich nicht erwartet. Ein verblüffter Blick streifte sie. »Tut mir leid. Im CD -Wechsler sind nur Jazz und Pop.«
»Dann ist es mir egal.«
»Vielleicht finde ich im Radio etwas.« Er suchte einen Sender, während sie am Karolinenplatz den Obelisken umrundeten, der an dreißigtausend bayerische Soldaten erinnerte, die während Napoleons Russlandfeldzug gefallen waren. Das war Vicki vom Geschichtsunterricht im Gedächtnis geblieben. Die Stadt war voller Denkmäler für die Toten: sinnlos Gestorbene und unsterblich Gewordene.
Klaviermusik erklang. Vicki schloss die Augen, so konnte sie besser hören. Ein Phänomen, das sie schon als Kind entdeckt hatte. Klang gar nicht schlecht. Wie der perlende Regen an der Windschutzscheibe, wie Wind in den Bäumen und das Rauschen eines Bachs.
Eine Viertelstunde später erreichten sie das St.-Michael-Haus in Ramersdorf, einem Viertel für einfache Leute, die sich die horrenden Mieten anderer Stadtteile nicht leisten konnten.
Wernegg parkte vor dem dreigeschossigen Gebäude. Vicki war der Anblick vertraut. Immerhin war es drei Jahre lang mehr als nur ein Dach über dem Kopf für sie gewesen. Doch auf ihn musste das Haus unfreundlich wirken. Grauer Waschbeton, Alujalousien, Flachdach. Lediglich eine farbenfrohe Bordüre gemalter Blumen, Tiere und Menschen, die sich im Erdgeschoss mannshoch über die ganze Vorderseite erstreckte, verriet, dass hier Kinder lebten. Ein Maschendrahtzaun begrenzte das Gelände, dahinter erstreckte sich ein weitläufiger Garten mit Rasenflächen, Spiel- und Sportplatz.
»Das ist
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