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So unselig schön

So unselig schön

Titel: So unselig schön Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Löhnig
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Versuch der Parallelwelterkundung, entdeckt hatte.
    Da sie den Nachmittag freigehabt hatte, war dem nichts im Wege gestanden. Vicki war vom Stiftungsbüro direkt zur Oper gegangen, die aber geschlossen hatte. Gut, dann eben nicht, dann würde sie sich Gemälde ansehen. Spontan entschied sie sich für das Lenbachhaus, das sie von Plakaten aus der U-Bahn kannte. Als sie dort ankam, hing ein Schild am Eingang. Wegen Sanierung bis 2012 geschlossen. Mist. Verärgert trottete sie über den Königsplatz, vorbei an der Glyptothek, und fuhr dann ins St.-Michael-Haus, um ihre frohe Botschaft zu verbreiten: Wernegg würde die Reittherapie bezahlen.
    Erst heute Morgen hatte sie sich wieder an die Parallelwelt und die Glyptothek erinnert. Was sich hinter diesen Mauern wohl verbarg? Sie googelte und erfuhr, dass dort antike Skulpturen standen. Eintritt sonntags ein Euro. Das war ein fairer Preis. Allerdings hatte das Tagesticket für den MVV fünf Euro gekostet.
    Mit der Rolltreppe fuhr Vicki nach oben und ging bei Rot über die Ampel, wild entschlossen, schnellstmöglich einen Blick in die Welt der Kunst zu werfen. Sie schritt durch ein Tor, das wie ein griechischer Tempel aussah, überquerte den Königsplatz und steuerte auf die Glyptothek zu. Vielleicht würde sie dort eine Skulptur von Epiktet finden. Dieser Gedanke beschleunigte ihre Schritte. Nun hatte sie ein Ziel und einen Grund, dieses einschüchternd wirkende Gebäude zu betreten.
    Im Foyer kaufte sie eine Eintrittskarte, zeigte sie einem Mann in Uniform und betrat die Ausstellungsräume.
    Die Säle waren kühl und hoch wie Kathedralen. Das leise Wispern der wenigen Besucher umspann die antiken Statuen wie unsichtbare Fäden. Vicki schritt über Böden aus grauem Stein, blieb vor marmornen Körpern stehen, denen Unter- oder Oberschenkel, Arme oder Hände fehlten, vor Gesichtern ohne Nasen oder Ohren, und doch war jede Figur von unantastbarer Schönheit. Wer derart Wunderbares erschaffen hatte, musste einfach glücklich gewesen sein.
    Schließlich kam sie zu einem Saal, in dem sich eine einzige Skulptur befand. Der Barberinische Faun, wie ein Schildchen verriet. Eine Gruppe von Besuchern verließ ihn gerade. Vicki blieb allein zurück und betrachtete ihn.
    Er war zum Weinen schön; schön wie ein Gott, obwohl er so menschlich wirkte. Halb lag, halb saß er auf einem Sockel, stellte seinen muskulösen Körper ebenso unbefangen zur Schau wie sein Geschlecht, das zwischen angewinkelten und gespreizten Beinen alles andere als verborgen war. Er wirkte schlaftrunken, träumend. Wovon wohl? Den Kopf voller marmorner Locken hatte er für immer und ewig in den Nacken geworfen, einen Arm dahinter verschränkt, während der andere träge herabhing. Seine vollen Lippen waren leicht geöffnet, als wartete er darauf, wachgeküsst, vom ewigen Schlaf erlöst zu werden.
    Wie viele Frauen das wohl schon heimlich versucht hatten? Und wie viele Männer?
    Der Marmor war weiß und glatt. Und doch war Vicki sich beinahe sicher, wenn man ihn berührte, wäre er nicht kalt. Konnte nicht kalt sein. Für immer und ewig.
    Sie war noch immer allein. Kurz lauschte sie, ob sich jemand näherte, hörte nichts, hob die Hand und zögerte einen Moment zu lange, den Rippenbogen zu berühren. Ihr Handy begann zu klingeln. In der Museumsstille klang es überlaut. Eilig zog Vicki die Finger zurück und zerrte das Telefon aus der Tasche, bevor es weiter schrillen und die Aufseher auf den Plan rufen konnte. »Hallo«, meldete sie sich atemlos.
    »Frau Senger?« Es war die Stimme von Wernegg.
    »Ja.«
    »Jobst Wernegg. Ich hoffe, ich rufe nicht zu früh an.«
    Es war nach halb elf. Was glaubte er denn, wann sie aufstand? »Ist schon …« Und dann wurde ihr klar, was er wollte. Vermutlich. Hoffentlich. »Sie stören nicht.«
    »Heute hätte ich Zeit, das Heim anzusehen. Ich wollte fragen, ob Ihnen das auch passen würde.«
    Yeah! »Klar. Kein Problem. Wann? Jetzt gleich?«
    »Wenn Sie Zeit haben.«
    Natürlich passte es ihr. Sie gab ihm die Adresse des Heims durch und sagte, bei ihr würde es noch etwas dauern. »Ich bin am Königsplatz und muss mit der U-Bahn und S-Bahn und dann noch mit dem Bus fahren.«
    »Ich komme aus Nymphenburg. Der Königsplatz liegt auf dem Weg. Wenn Sie möchten, hole ich Sie ab.«
    »Ja. Gerne.«
    Bevor sie den Saal verließ, strich sie über die Brust des Fauns, spürte Muskeln und Rippenbogen, kalt und unnachgiebig. Toter Stein. Und trotzdem schlummerte Leben in ihm.
    Vicki

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