So wahr uns Gott helfe
entfernen, um es nicht ständig umgehen zu müssen. Das Letzte, was sie fragte, bevor ich sie zur Tür hinauskomplimentierte, war, ob ich sie entlassen würde. Ich erklärte ihr, das stehe noch nicht fest, sie solle aber auf jeden Fall am nächsten Tag wie gewohnt zur Arbeit erscheinen.
Da Jerry Vincent tot war und Wren Williams sich als keine große Hilfe erwies, tappten wir zunächst gründlich im Dunkeln. Doch schließlich fand Lorna heraus, nach welchem System die Akten abgelegt waren, und machte sich daran, die laufenden Fälle herauszusuchen. Mithilfe der Datumsvermerke in den Akten gelang es ihr, Jerry Vincents Terminkalender zu rekonstruieren – ein Schlüsselelement im Berufsleben eines jeden Prozessanwalts. Nachdem wir einen rudimentären Zeitplan erstellt hatten, konnte ich zum ersten Mal ein wenig aufatmen. Wir legten eine Pause ein und öffneten die Sandwichkartons.
Der Kalender war nicht sehr voll. Hier und da ein paar Anhörungen, aber ansonsten hatte sich Vincent den größten Teil seiner Zeit für Walter Elliots Prozess freigehalten, der in neun Tagen mit der Auswahl der Geschworenen beginnen sollte.
»Dann lasst uns mal anfangen«, sagte ich, den Mund noch voll von meinem letzten Bissen. »Unserem eben zusammengestellten Kalender zufolge habe ich in fünfundvierzig Minuten eine Urteilsverkündung. Deshalb schlage ich vor, wir gehen kurz die wichtigen Dinge durch, bis ich ins Gericht muss. Ihr beide bleibt derweil hier, und wenn ich wieder zurückkomme, sehen wir, was ihr bis dahin Neues herausgefunden habt. Anschließend ziehen Cisco und ich los, die Runde machen.«
Beide nickten stumm. Auch sie waren noch mit ihren Sandwiches beschäftigt. Cisco hatte Cranberrysoße in seinem Schnurrbart, merkte es aber nicht.
Lorna war so gepflegt und schön wie immer. Sie war eine richtige Augenweide mit ihren blonden Haaren und diesen Augen, die einem das Gefühl vermittelten, der Mittelpunkt des Universums zu sein, wenn sie einen ansah. Davon bekam ich nie genug. Ich hatte sie das ganze Jahr, das ich nicht praktiziert hatte, weiter bezahlt. Zum einen hatte ich mir das dank der Versicherungsentschädigung leisten können, zum anderen wollte ich nicht riskieren, sie an einen anderen Anwalt zu verlieren, bevor ich wieder einzusteigen beschloss.
»Beginnen wir mit den Finanzen«, schlug ich vor.
Lorna nickte. Nachdem sie die Akten der aktuellen Fälle herausgesucht und vor mir aufgetürmt hatte, hatte sie sich sofort die Bankunterlagen vorgenommen, die fast ebenso wichtig waren wie der Terminkalender. Aus den Bankunterlagen ging nicht nur hervor, wie viel Geld Vincents Kanzlei auf dem Konto hatte. Sie verrieten uns auch, wie er seinen Ein-Mann-Betrieb geführt hatte.
»Also, in puncto Geld habe ich gute und schlechte Nachrichten«, begann Lorna. »Auf dem Spesenkonto sind achtunddreißigtausend Dollar, auf dem Treuhandkonto einhundertneunundzwanzigtausend.«
Ich stieß einen leisen Pfiff aus. Das war erstaunlich viel Geld für ein Treuhandkonto. Gelder, die von Mandanten eingehen, wandern zunächst auf das Treuhandkonto. Sobald der Anwalt die Arbeit aufnimmt, werden die anfallenden Kosten vom Treuhandkonto auf das Spesenkonto umgebucht. Ich will auf dem Spesenkonto möglichst immer mehr Geld haben als auf dem Treuhandkonto, denn sobald das Geld auf dem Spesenkonto liegt, gehört es mir.
»Für diese Schieflage gibt es allerdings einen Grund«, fuhr Lorna fort, der meine Verblüffung nicht entgangen war. »Er hat von Walter Elliot erst kürzlich einen Scheck über einhunderttausend Dollar erhalten, den er am Freitag eingelöst hat.«
Ich nickte und tippte auf den Notizblock mit dem provisorischen Terminkalender, der vor mir auf dem Tisch lag. Sobald Lorna dazu kam, würde sie einen richtigen Kalender kaufen müssen. Außerdem würde sie sämtliche Gerichtstermine in meinen Computer und in einen Online-Kalender eingeben. Und zu guter Letzt würde sie, was Jerry Vincent leider nicht getan hatte, alles auf einem externen Datenspeicher sichern.
»Der Elliot-Prozess soll Dienstag in einer Woche beginnen«, sagte ich. »Er hat sich die hunderttausend als Vorschuss zahlen lassen.«
Das Offensichtliche auszusprechen zog eine plötzliche Einsicht nach sich.
»Ruf bitte sofort bei der Bank an, sobald wir hier fertig sind«, wies ich Lorna an, »und erkundige dich, ob die Buchung bereits erfolgt ist. Wenn nicht, sieh zu, dass sie es umgehend nachholen. Sobald Elliot erfährt, dass Vincent tot ist, wird er
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