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So weit der Wind uns trägt

So weit der Wind uns trägt

Titel: So weit der Wind uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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handelte. Bis vor kurzem hatte seine Mamã es überhaupt nicht gern gesehen, wenn irgendjemand ihr Zimmer betrat.
    Sie streichelte ihm über den Kopf. »Ah, dein Haar, das hätte ich gerne!« Sie zwinkerte ihm zu. »Hast du Lust, deiner Mamã etwas Schönes zum Anziehen auszusuchen?«
    Er sah sie fragend an.
    »Du bist der wichtigste Mann in meinem Leben, oder nicht? Na, da wirst du auch entscheiden dürfen, was ich anziehe.«
    »Auch das rote Kleid?«
    Jujú musste sich zwingen, nicht laut herauszulachen. Nein, Paulo würde sich nie zu Männern hingezogen fühlen. Das rote Kleid war das offenherzigste, das sie besaß. Es grenzte fast ans Ordinäre, und sie hatte es nur gekauft, weil ihre Schwester Isabel sie begleitet und schlecht beraten hatte. Sie hatte das Kleid bisher nur einmal getragen und sich darin, trotz der bewundernden Blicke der Männer, unwohl gefühlt.
    »Ja, auch das rote«, antwortete sie. Jujú hatte nicht vor, das Haus zu verlassen, bevor das Kindermädchen wieder zurück war und Paulinho tief und fest schlief.
    Der Junge wühlte im Kleiderschrank herum, zerrte das rote Kleid hervor und warf es nachlässig aufs Bett. Dann eilte er sofort wieder zu dem Kleiderschrank, um sich an dem Duft zu berauschen, der ihm entströmte, an den raschelnden Stoffen und an dem Glanz all der schönen Kleidungsstücke aus Seide, Organza und Satin. Nie zuvor hatte seine Mutter ihm erlaubt, auch nur einen Blick in den Schrank zu werfen, und nun durfte er sogar ungestraft die Kleider berühren. Es war das reinste Fest!
    Jujú beobachtete ihn durch den Spiegel und freute sich mit Paulinho.
    »Sieh mal in der untersten Schublade nach. Dort müsste ein grüner Schal liegen – den bring mir bitte mal.«
    Als Paulo mit dem Schal an ihren Frisiertisch trat, nahm sie ihm das Stück aus den Händen und legte es ihm um den Hals. »Oh, Monsieur, wie elegant Sie heute wieder aussehen!«
    Paulinho hüpfte vor Freude auf und ab. Sein Entdeckergeist war nun endgültig erwacht. Er öffnete Schubladen, zunächst noch zaghaft, dann, als von seiner Mamã kein scharfes Wort zu hören war, immer entschlossener. Er zog Accessoires hervor, die er nach ausgiebiger Untersuchung einfach auf den Boden warf; er wühlte in ihrer Seidenwäsche herum, was seine Mutter ihm allerdings nicht durchgehen ließ; er stolperte in ihren viel zu großen Schuhen durch den Raum und legte ihre Perlenketten und Brillantbroschen an. Es war besser als Karneval, und das Allerbeste war, dass seine Mutter aus voller Brust lachte und seine Verkleidungskünste bewunderte.
    Paulinho war nun nicht mehr zu bremsen. Er schwirrte durch das Schlafzimmer, kramte alte Hüte aus Hutschachteln und setzte sie seiner Mutter schief auf den Kopf. Begeistert von seinem eigenen Wagemut und angestachelt durch die fröhliche Reaktion seiner Mutter, öffnete er jede einzelne Schublade der Kommode, bevor er sich den Inhalt des Nachttischchens vornahm. Dort allerdings machte er einen sehr seltsamen Fund. Er hielt das Foto wie eine Trophäe mit beiden Armen über dem Kopf.
    »Leg das weg. Sofort!« Jujús gute Laune war schlagartig verschwunden.
    »Wer ist der Mann auf dem Bild?«, getraute Paulinho sich noch zu fragen, der an einen so plötzlichen Stimmungsumschwung nicht ganz glauben mochte.
    »Niemand. Und jetzt leg es wieder in die Schublade, und dann geh auf dein Zimmer.« Ihr Ton war auf einmal hart geworden. Widerrede kam nicht in Frage.
    Er tat, was sie ihm aufgetragen hatte. Beim Verlassen des Schlafzimmers trat er wütend nach einem Nachthemd, in dem er noch vor wenigen Minuten ein Gespenst gespielt und das er auf dem Fußboden liegen gelassen hatte. Seine Mamã war genauso undurchschaubar wie seine Schwester, und diese Erkenntnis verstörte ihn zutiefst. Noch auf dem Flur, in ihrer Hörweite, bekam er einen Asthmaanfall.
     
    Jujú fragte sich manchmal, wie es anderen Leuten gelang, neben all den vielen Pflichten und Aufgaben und kleinen Vergnügungen, mit denen die Tage gefüllt waren, noch einer geregelten Arbeit nachzugehen. Oder umgekehrt. Sie selber hatte das Gefühl, dass 24 Stunden am Tag nie reichten. Dabei gehörte sie zu den Privilegierten, die sich ihre Zeit relativ frei einteilen konnte. Ihre Tochter war im Internat, ihr Sohn ging in Lissabon zur Schule und war damit zumindest vormittags aus dem Weg, ihr Mann lebte 300 Kilometer entfernt von ihr, und sie musste sich um keine kränkelnden Eltern, Schwiegereltern oder Tanten kümmern. Auch hatte sie nur sehr selten

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