So weit der Wind uns trägt
verschwundene Foto von ihr und Fernando vergrößert, vervielfältigt und auf jede Hauswand geklebt hätte. Überall sah sie hämische Gesichter, hörte sie abschätzige Bemerkungen, schmeckte sie den schalen Geschmack von Gewissensbissen, die sie nicht gehabt hatte, solange das Foto noch da gewesen war. Sie bereute nicht ihr »Verbrechen«, keine Sekunde davon, sondern einzig die Tatsache, dass sie erwischt worden war. Und sie wusste weder von wem, noch was diese Person mit ihrem Wissen und dem Beweisfoto anfangen würde.
Sie konnte nicht glauben, dass ihr kleiner Paulinho zu einer solchen Gemeinheit fähig war. Der Junge war acht Jahre alt, du liebe Güte! Was sollte er mit einem Bild anfangen können, auf dem seine Mutter mit einem fremden Mann zu sehen war? Fotos von ihr allein und auch von ihr und Rui gab es jede Menge, und Paulinho hatte sogar eines – auf dem Jujú sich übrigens außerordentlich gut getroffen fand – in einem Messingbilderrahmen in seinem Zimmer stehen. Warum sollte ihr kleiner Sohn also ausgerechnet dieses Foto aus Cannes an sich genommen haben? Die einzige mögliche Erklärung wäre gewesen, dass er sich neulich, als sie ihn so scharf angefahren hatte, zurückgesetzt gefühlt hatte und dies nun eine Art Rache dafür war. Aber dann hätte sie das Bild doch unter seinen Sachen gefunden, oder nicht?
Sie hatte alles abgesucht. Kein Quadratzentimeter ihrer Wohnung war vor ihrer fieberhaften Suche verschont geblieben. In Paulinhos Zimmer hatte sie angefangen. Sie hatte Luiza mit einer fadenscheinigen Begründung aus dem Haus geschickt und dann jeden Winkel durchstöbert. Sie hatte ein paar interessante Entdeckungen dabei gemacht, etwa die einer Sammlung von toten, flügelamputierten Fliegen, aber nicht das Foto entdeckt. Sie hatte unter der Matratze, in allen Schubladen, in Schulheften und in den Tiefen der Spielzeugkiste danach gefahndet, aber vergebens. Einerseits war sie beruhigt, hieß das doch, dass Paulinho wahrscheinlich nicht der Dieb war. Natürlich nicht! Wie hatte sie je auf so einen unmütterlichen Gedanken kommen können?
Andererseits steigerte die Gewissheit, dass Paulinho nicht der Schuldige war, ihre Nöte nur noch mehr. Dann konnte nur Luiza das Bild genommen haben. Und in diesem Fall musste Jujú sich mit der Frage auseinandersetzen, welchen Zweck das Mädchen damit verfolgte. Würde sie ihre Dienstherrin damit erpressen wollen? Aber warum hatte sie dann nicht schon längst damit begonnen? Würde Luiza überhaupt erkennen können, was das Bild zeigte? Sie konnte doch gar nicht wissen, dass es auf der Croisette aufgenommen worden war. Es hätte ebenso gut ein völlig belangloses Bild von der Strandpromenade in Estoril sein können – mehr als die beiden Personen, das Meer im Hintergrund und ein paar Palmen sah man ohnehin nicht. Nein, erinnerte sie sich auf einmal, am unteren Rand hatte der Fotograf sich verewigt, mit seinem Namen, der Jujú entfallen war, und dem Ort: Cannes. Also schön, überlegte sie weiter, aber die Tatsache, dass sie und Fernando Abrantes in Cannes gewesen waren, musste ja nicht unbedingt etwas bedeuten. Was wusste Luiza schon von ihrem Leben, von ihren Freunden und ihrer Familie, von ihrer Vergangenheit?
Mehr, als Jujú lieb gewesen wäre. Luiza war neugierig und schlau, eine Kombination von Eigenschaften, wie sie bei einer Hausangestellten nicht eben wünschenswert war. Luiza hatte über das Kindermädchen Aninha alles Mögliche in Erfahrung gebracht, was den Ehemann der Senhora, die Schwiegereltern, das Leben und die Quinta in Pinhão betraf. Sie hatte die Briefe an Dona Juliana gelesen und die Ein- und Auszahlungen auf ihrem Sparbuch mitverfolgt. Sie hatte sich von Paulinho schildern lassen, was der hier in der Wohnung beobachtet hatte, wenn sie nicht da war. Auf diese Weise hatte sie zum Beispiel erfahren, dass der hochgeschätzte Senhor in der schneidigen Uniform neuerdings auch abends zu Besuch kam. Die feinen Turteltäubchen glaubten wohl, dass der Junge schon schlief. Wie hellwach dieses Früchtchen sein konnte, wenn er die Gelegenheit hatte, andere zu belauschen, auszuspionieren und auszutricksen, konnte nur Luiza nachvollziehen. Sie kannte diese Sorte – sie selber war genauso. Anders als Paulinhos Mutter ließ sie sich von dem Engelsgesichtchen keine Sekunde lang täuschen.
»Mamã?« Paulinhos Stimme klang schlaftrunken.
»Ja, mein Schatz?«
»Da waren Geister in meinem Zimmer. Und Nebel.« Seine Stimme war
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