Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
So weit der Wind uns trägt

So weit der Wind uns trägt

Titel: So weit der Wind uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
Vom Netzwerk:
bestand, dass er sich noch einmal so an ihr vergriff.
    Die Schuldgefühle lasteten schwer auf ihm. Fernando hatte immer Männer verachtet, die ihren Schwächen nachgaben. Männer wie seinen Vater, der seine Trunksucht mit dem Leben bezahlt hatte; Männer wie seinen Bruder Sebastião, dessen Mangel an Ehrbarkeit mit einer Gefängnisstrafe belohnt worden war; und sogar Männer wie seinen einstigen Vorgesetzten Alves Ferreira, dessen vielfache Seitensprünge ihn angreifbar und erpressbar gemacht und damit seine Karriere behindert hatten. Fernando hatte nie so werden wollen wie sie, und doch war es geschehen. In Wahrheit war er noch schlimmer als der Major. Dessen Liebschaften hatten nur der Pflege seiner Eitelkeit gedient, darüber hinaus aber nicht viel bedeutet. Er selber dagegen
liebte
eine andere als seine Ehefrau, und zwar mit einer Besessenheit, die sämtliche Gefühle, die er anderen Menschen jemals entgegengebracht hatte, in den Schatten stellte. Er liebte sie sogar mehr als seine Töchter, und allein dieser Gedanke stürzte Fernando in tiefe Verzweiflung. Er war nicht normal. Aber es war stärker als er. Er, Fernando Abrantes, der nie eine Herausforderung gescheut hatte, der es mit der ganzen Welt aufnehmen konnte, der sich über alle Hindernisse hinweggesetzt hatte, musste vor der Größe seiner Gefühle zu Jujú kapitulieren.
     
    Als er eines Abends, nachdem die Kinder im Bett waren und er Elisabete auf ihrem Zimmer glaubte, seinen Mantel überzog, um Jujú zu treffen, stand ihm plötzlich seine Frau in der Diele gegenüber. Fernando verzog keine Miene, als sei es völlig selbstverständlich, kurz vor Mitternacht noch aus dem Haus zu gehen. Doch sein Herz pochte heftig. Elisabete sah ihn stumm an. Er schwieg ebenfalls. Was sollte er schon sagen? Jedes Wort, das er jetzt von sich gab, wäre entweder gelogen oder zu verletzend, als dass man es aussprach. Er setzte seinen Hut auf, nahm seinen Regenschirm und musterte sich kurz im Spiegel. Ihre Blicke begegneten sich darin.
    »Gehst du wieder zu ihr?«, fragte Elisabete sein Spiegelbild. Ihr Gesichtsausdruck blieb vollkommen neutral, undurchschaubar. Auch der Ton ihrer Frage ließ nichts von ihrem Gemütszustand erkennen. Keine Bitterkeit, kein Vorwurf, keine Traurigkeit lagen darin. Sie hätte genauso gut fragen können, um wie viel Uhr die Bank schloss oder ob er ihr das Feuilleton der Zeitung bitte herüberreichen könnte.
    Mit Anschuldigungen hätte er umgehen können. Mit Beleidigungen wäre er fertig geworden. Mit Beschimpfungen hätte er leben können. Aber diese Demonstration totaler Gleichgültigkeit, die, das ahnte Fernando, das Ergebnis großer Selbstkontrolle war, schockierte ihn. Sie führte ihm mehr als alles andere vor Augen, was er für ein Lump war. Da stand sie, seine hochschwangere Frau, mit ernstem Gesicht und in ihrem roséfarbenen Morgenmantel ein irgendwie rührender Anblick, und fragte ihn, was sie ihn wahrscheinlich schon seit einer Ewigkeit hatte fragen wollen. Jetzt wäre der Augenblick gewesen, in dem er Elisabete hätte umarmen müssen, in dem er den Mantel wieder hätte ablegen und mit ihr reden sollen. In dem er ihr ein Getränk holte, sie ihre Beine hochlegte, er ihren Bauch streichelte und ihren Nacken kraulte. In dem er sich aufführte, wie ein anständiger Ehemann es tat.
    Aber er konnte nicht.
    Er gab ihr zwei Küsschen auf die Wangen und verließ wortlos die Wohnung.

22
    S ah der Senhor Raúl im Tabakladen sie sonderbar an? Oder bildete sie sich das nur ein? Früher hatte der Dickwanst sie eindeutig mit größerem Respekt behandelt, oder? Und daran, dass er es vielleicht nicht schätzte, wenn Frauen rauchten, konnte es ja kaum liegen – sie kaufte ihre teuren ausländischen Zigaretten bei Senhor Raúl, seit sie in Lissabon lebte. Dann die Frau aus dem Delikatessengeschäft in der Rua da Lapa: Warf sie ihr nicht misstrauische Blicke zu, jedes Mal wenn sie dort ihre heißgeliebten
queijadas de Sintra
erstand? Als würde die Verkäuferin die merkwürdigen Gelüste der feinen Senhora, die praktisch täglich eines oder mehrere dieser Zimt-Käsetörtchen hier holte, einer ungehörigen Sinnesverwirrung, wenn nicht gar einer Schwangerschaft zuschreiben. Selbst der nette Postbote erschien Jujú plötzlich gar nicht mehr so nett wie früher. Was stierte er sie immer so an? Und was war das für ein aufgesetztes, berechnendes Lächeln, mit dem er sie bedachte?
    Jujús Scham hätte kaum schlimmer sein können, wenn man das

Weitere Kostenlose Bücher