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So weit der Wind uns trägt

So weit der Wind uns trägt

Titel: So weit der Wind uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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war. Er war von durchschnittlicher Statur, hatte ein vollkommen asymmetrisches Gesicht, trug das dichte schwarze Haar soldatisch kurz und hatte Aknenarben auf den Wangen. Aber er war charmant, hatte eine wunderschöne Stimme, und in seiner Körperhaltung wie in seinen Worten lagen Herausforderung und Vorsicht gleichermaßen. Wenn er, wie sie vermutete, ein jüdischer Emigrant war, dann hatten die Nazis ihn jedenfalls nicht in dem Maße verbogen, wie es bei so vielen anderen zu beobachten war.
    Heute wollten sie gemeinsam zu Mittag essen. Laura wohnte seit zwei Jahren in einer Mansardenwohnung in der Alfama, wo sie versuchte, als Künstlerin Fuß zu fassen. Solange der Erfolg ausblieb, schlug sie sich damit durch, dass sie an drei Tagen pro Woche in einer Azulejo-Werkstatt auf Bestellung Kacheln für Touristen bemalte. Es war wirklich verrückt, auf welche Ideen die Leute kamen. Neulich hatte ein Amerikaner bei ihr einen Satz Azulejos in Auftrag gegeben, auf den sie »Mom for President« schreiben und den Spruch mit einem traditionellen Schmuckrand in Blau und Gelb verzieren sollte. Pfui Teufel! Aber was tat man nicht alles für Geld?
    Dass António sie wieder eingeladen hatte, kam Laura sehr gelegen. Dennoch tat es ihr ein wenig leid um ihn, der nicht gerade danach aussah, als könne er es sich leisten, sie auszuführen. Also hatte sie ein Lokal vorgeschlagen, das sehr einfach und, weil bei Touristen oder Emigranten weitestgehend unbekannt, auch sehr preiswert war. Es gab dort vorzügliche Fischgerichte vom Grill und einen passablen Tischwein.
    Zuvor musste sie allerdings noch eine unangenehme Pflicht erledigen. Heute Vormittag wollte ihre Mutter ihr Modell sitzen – in einem Moment töchterlicher Aufopferungsbereitschaft hatte Laura eingewilligt, ein Porträt von ihr zu malen. »Wofür brauchst du eigentlich ein Bild von dir?«, hatte sie später nachgefragt, und ihre Mutter hatte patzig geantwortet: »Vielleicht möchte ich es jemandem schenken.« Pah, dachte Laura, das hatte sie wahrscheinlich nur gesagt, um sich wichtig zu machen. Wer wollte allen Ernstes eine Frau hofieren, die in einem Monat siebenundvierzig Jahre alt wurde? Und welches Ego musste man besitzen, um sich in einem solchen Alter noch porträtieren zu lassen? Aber gut, sie hatte es ihrer Mutter versprochen, also würde sie sich in die Rua Ivens begeben und die lästige Sitzung so schnell wie möglich hinter sich bringen. Sie würde dafür ohnehin nicht lange brauchen. Sie kannte das Gesicht ihrer Mutter so gut wie ihr eigenes, dem es so sehr ähnelte, dass es manchmal wehtat. Es war nicht schön zu wissen, wie man selber in einem Vierteljahrhundert aussehen würde.
     
    Das Essen oder besser die Unterhaltung, die es begleitete, gestaltete sich anfangs schwieriger, als Laura gedacht hatte. Für ihre ebenso naiven wie dreisten Fragen vom Vortag schämte sie sich jetzt. Also versuchte sie in dieser zweiten Begegnung mit António alle Themen zu vermeiden, die auch nur entfernt mit Krieg, Faschismus und Weltpolitik zu tun hatten. Fragen zu seiner Herkunft, seiner Familie und dergleichen erschienen ihr nun ebenfalls tabu. Was blieb da noch?
    Die erste Viertelstunde redete fast nur sie, in einer verzweifelten Anstrengung, keine bedrückende Stille aufkommen zu lassen. Doch auch sie selber hatte vieles zu verbergen. Sie wollte nicht, dass er oder auch sonst irgendjemand erfuhr, dass ihr Vater ein schwerreicher Portwein-Produzent und ihre Mutter eine vornehme Dame war, die den ganzen Tag nichts anderes zu tun hatte, als Geld für feine Wäsche von »Paris em Lisboa« oder überflüssiges Wohnzubehör aus dem Kaufhaus »Loja da América« auszugeben und mit anderen gelangweilten Ehefrauen »weißen Tee« – Wein oder weißen Port – aus zarten Porzellantassen zu trinken.
    Niemand sollte sie für etwas anderes halten als das, was sie selber darstellte, oder für andere Vorzüge schätzen als die, die sie selber hatte: ihren Humor, ihre Kunst, ihre liberale Haltung. Also erzählte sie António von dem Leben in der Alfama. Von dem Mangel an Privatsphäre, weil so viele Menschen auf so wenig Raum zusammenlebten; von dem Gekeife der Frauen in den Gassen und den Schlägereien unter betrunkenen Männern; von den Tausenden herrenloser Katzen und Hunde, die sich nachts über die Mülltonnen hermachten; aber auch von der Großherzigkeit der Bewohner, die einander halfen, wo sie nur konnten, und von der ausgelassenen Stimmung in den Straßen, wenn das Fest des

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