So weit der Wind uns trägt
Anstand und Schamgefühl, dass sie sich in ihrem Zustand nicht mehr den Augen der Öffentlichkeit preisgegeben haben.«
»Was hat es dich gekostet, sie wegzuschicken, damit sie einsam und allein ihre Kinder zur Welt bringen konnten?«
»Frag Papá.«
»Hast du nicht mal daran gedacht, ein Mädchen zu ehelichen und so deiner Verantwortung ihr und dem Kind gegenüber gerecht zu werden?«
»Ich bin zu jung zum Heiraten. Außerdem soll meine Braut keineswegs ein entehrtes Mädchen sein. Ich will eine Jungfrau.«
Laura hätte sich übergeben können. Ihr Bruder war schon immer ein Charakterschwein gewesen, aber so viel Heuchelei und Verlogenheit hätte sie nicht einmal bei ihm vermutet. Anscheinend war ihr der Ekel, den sie vor ihm empfand, deutlich anzusehen.
»Du brauchst gar nicht so zu gucken. Die meisten Männer denken genau wie ich. Dich will jedenfalls ganz sicher keiner mehr.« Er drehte sich um und ging zur Tür. Dort wandte er sich noch einmal zu ihr und flüsterte: »Du bist verdorbene Ware.«
Laura blieb mit offenem Mund zurück, fassungslos über so viel Selbstherrlichkeit und mangelnden Realitätssinn. Wenn hier jemand verdorben war, dann Paulo, und dass es ihm nicht anzusehen war, machte es nur noch schlimmer. Wie ein knackiger, bildschöner Apfel, der innerlich durch und durch von Würmern zerfressen war.
Ob ihr Vater ihn wirklich so billig hatte davonkommen lassen? Hatte er das Geld herausgerückt, damit die Mädchen irgendwo im Ausland die Kinder austragen und zur Adoption freigeben konnten, ohne Paulo zur Rechenschaft zu ziehen? Laura bezweifelte es. Sie hatte zwar nicht mehr viel Kontakt zu ihrem Vater, aber seinen Gerechtigkeitssinn würde er in den vergangenen Jahren wohl nicht verloren haben. Zu seinen Lieblingsausdrücken aus England hatte immer »fair play« gehört, und sie hoffte, dass sich das nicht nur auf die Regeln beim Tennis beschränkte.
Rui fand seine Tochter im Wohnzimmer, wo sie mit nachdenklicher Miene unter dem Deckenventilator saß.
»Mir ist es auch zu heiß draußen. Dreißig Grad Anfang Juni, puh!«, sagte er und wischte sich einen unsichtbaren Schweißtropfen mit dem Taschentuch von der Stirn.
»Ja, und du bist nicht im neunten Monat.«
»Ähm, nein. Aber gut, dass du die Sprache darauf bringst. Genau darüber wollte ich mit dir reden.«
»Ich dachte, die Gardinenpredigten hätte ich hinter mir.«
»Ich will dir keine Predigt halten. Ich möchte nur wissen, was mit dir los ist. Warum tust du dir das an?«
»Was an?«
»Na, du weißt schon – einen, äh, ein illegitimes Kind auszutragen.«
Laura hätte schwören können, dass ihrem Vater beinahe das Wort Bastard herausgerutscht wäre.
»Du tust dir selber keinen Gefallen«, fuhr er fort. »Du machst dir das Leben unnötig schwer. Deine Mutter, dein Bruder, deine Großeltern und ich, wir lieben dich, ganz gleich, was passiert. Aber die anderen Leute, sie werden reden. Sie werden mit dem Finger auf dich zeigen. Sie werden dich permanent ihre Verachtung spüren lassen, und das stelle ich mir sehr grausam vor.«
Laura wunderte sich über diese ungewöhnlich vorurteilsfreie Ansprache. Er hatte lange nicht mehr so mit ihr geredet, und es kam ihr vor, als wolle er jetzt, da er Großvater wurde, alle Fehler ausbügeln, die er als Vater gemacht hatte.
»Nicht so grausam wie eine Ehe, die nur auf dem Papier besteht. Und das seit 25 Jahren, mein Gott. Wirklich kein Grund zum Feiern. Außerdem darf ich dich darüber aufklären, dass es jetzt wirklich zu spät ist, um noch irgendetwas gegen diese Schwangerschaft ›zu unternehmen‹.«
»Denk doch mal an das Kind. Dir mag ja egal sein, was die Leute sagen, aber das arme Kind wird immerzu das Opfer von Gemeinheiten sein. Du musst heiraten.«
»Pai, nimm es mir nicht übel, aber aus eigener Anschauung weiß ich, wie sich ein Sechsmonatskind fühlt. Das ist kein bisschen besser. Im Übrigen habe ich kaum eine andere Wahl, als ledig zu bleiben: Der Vater steht zum Heiraten nicht zur Verfügung.«
Rui verdrehte die Augen. Wenn Laura sich mit einem gebundenen Mann eingelassen hatte, warum hatte sie dann nicht Sorge dafür getragen, eine Schwangerschaft zu verhindern? Und wenn der Mann ledig war, wieso nahm er Laura dann nicht zur Frau? Sie war schön, klug und reich – es gab, anders als bei den Dorftrampeln, die sein nichtsnutziger Sohn geschwängert hatte, keinen Grund, sie nicht zu ehelichen.
Laura ahnte, was hinter der Stirn ihres Vaters vorging.
»Es ist
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