So weit der Wind uns trägt
früh zu sich zu holen, während Dona Juliana, die doch bekanntlich ein liederliches Leben in Lissabon führte, vor Gesundheit zu strotzen schien? Warum hatte Paulo auch mit knapp zwanzig Jahren noch den anrührend unschuldigen Gesichtsausdruck, der seinem wahren Wesen so vollkommen entgegengesetzt war? Und wie konnte Laura sich unterstehen, ihren Bauch so schamlos vor sich herzutragen, während seine eigene Tochter, die etwas jünger war, nur noch mit gesenktem Kopf herumlief? War das gerecht? Pedro Domingues schüttelte den Kopf über sich selber. Wie hatte er sich der irrigen Vorstellung hingeben können, es gäbe eine ausgleichende Gerechtigkeit? Nein, irgendetwas lief im Himmel kolossal schief. Wahrscheinlich hatten auch dort diejenigen das Sagen, die keine Skrupel und kein Gewissen besaßen – und schätzungsweise hatten die den lieben Gott mit unlauteren Methoden von seinem Thron gestoßen.
»Senhor Pedro, wie schön, Sie wiederzusehen!« Laura kam mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. War sie nicht ganz richtig im Kopf? Wie konnte sie sich in ihrem Zustand so ungeniert auf die Veranda wagen, wo sich die meisten Gäste befanden? Solange sie im Haus blieb, wo er sie vorhin kurz hatte vorbeihuschen sehen, ging es ja noch. Aber das? Sagte dem Mädchen denn keiner, wo sein Platz war?
»Laura, du siehst hinreißend aus! Die Ehe scheint dir gut zu tun – deine Eltern müssen sehr stolz auf dich sein, dass du ihnen jetzt ihren ersten Enkel schenkst, nicht wahr?«
»Nun ja, sie … ja, wahrscheinlich sind sie das.«
»Und dein Mann? Ist er auch hier? Stellst du ihn mir vor?«
»Nein, er ist in New York, geschäftlich, sozusagen. Oh, da sind ja auch die Pereiras – entschuldigen Sie mich, wir plaudern nachher noch ein bisschen, in Ordnung?«
Verlogen wie der Rest der Bagage auch! Und feige obendrein. Pedro Domingues glotzte ihr nach, wie sie im Haus verschwand. Die Pereiras interessierten Laura nicht die Bohne. Sie hatte sich nur seinen Fragen entziehen wollen. Tja, dann würde eben er zu den Pereiras gehen. Zu erzählen hatte er ja allerhand.
Laura flüchtete sich in ihr altes Zimmer. Was ihre Eltern und ihr Bruder nicht geschafft hatten, nämlich ihr die Teilnahme an der Feier auszureden, war Senhor Domingues mit einigen wohlplatzierten Fragen gelungen. Ihr war die Lust gründlich vergangen. Ihre Laune war auf den Nullpunkt gesunken – nicht wegen der Impertinenz des Nachbarn, sondern aus Wut über sich selber. Sie hatte sich mehr zugetraut. Doch während sie dem Kummer ihrer Eltern und den Frechheiten ihres Bruders stolz entgegengetreten war, war sie bei den harmlosen Fragen des verschwitzten, dicken, einst gutmütigen Senhor Domingues eingeknickt.
Aber waren seine Fragen wirklich ohne böse Hintergedanken gewesen? Hatte sie nicht eine Spur von Gehässigkeit herausgehört? Ja, wenn sie sich sein Gesicht jetzt wieder vor Augen hielt, dann hatte darin weniger nachbarschaftliches Interesse gestanden als vielmehr Hohn und Zorn. Sie hatte sich nur blenden lassen von Senhor Domingues’ harmlosem Äußeren, seinem buschigen Schnauzbart, seiner roten Knubbelnase, die deutlich von seinem überhöhten Portwein-Konsum zeugte, sowie von seiner runden Gestalt. Aber seine Augen sprachen eine gänzlich andere Sprache.
Laura nahm ihren Skizzenblock und versuchte aus dem Gedächtnis, diese Diskrepanz einzufangen. Ein interessantes Studienobjekt, der liebe Senhor Domingues. Wenn sie doch nur den Mumm besessen hätte, sich unter die Gäste zu mischen! Dann hätte sie ihn sich noch einmal genauer betrachtet, hätte typische Merkmale klarer herausarbeiten können und hätte den Mann, besser, als wenn er ihr Modell gesessen hätte, in einer unverfälschten Weise porträtieren können – so wie sie einst am Rossio-Bahnhof die sich unbeobachtet glaubenden Reisenden gezeichnet hatte.
Sofort verdrängte sie jeden Gedanken an diese Zeit. Es erfüllte sie nur mit Wehmut, mit einer unbeschreiblichen
saudade
, wenn sie an ihre erste Begegnung mit Jakob zurückdachte. Sie durfte jetzt auf gar keinen Fall in Selbstmitleid versinken. Nach vorne schauen, immer nach vorne. Dem Kind zuliebe.
Im Haus, auf der Veranda und auch im Garten der »Quinta das Laranjeiras« ging es hoch her. Es gab nicht viele Gelegenheiten, zu denen sich die gesamte Verwandtschaft traf, und alle schienen nur auf einen Anlass wie diesen gewartet zu haben. Jujú wunderte sich über den enormen Zulauf. Es wusste doch jeder, wie es um ihre Ehe
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