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So weit der Wind uns trägt

So weit der Wind uns trägt

Titel: So weit der Wind uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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Vielfalt tummelten. Es gab nichts, was es nicht gab. Sie hatten sogar Juden getroffen, die schon seit Generationen in den USA waren und die den Geschehnissen in Europa mit einer beinahe ekelerregenden Gleichgültigkeit gegenüberstanden. Doch sosehr Jakob diese Leute verabscheute – er liebte die Tatsache, dass es sie gab. Sie riefen ihm ständig in Erinnerung, dass es ihnen allen hier überhaupt möglich war, frei ihre Meinung zu äußern.
    An Portugal dachte Jakob nur noch selten zurück, wie an einen Traum, dessen Bilder sich umso mehr verflüchtigen, je mehr man sie einzufangen versucht. Sein Briefwechsel mit Laura war beinahe eingeschlafen. Es war seine Schuld. Es lag nicht allein daran, dass er Elsa im Laufe der Zeit lieben gelernt hatte. In erster Linie machte er dafür verantwortlich, dass er sich von dem
American way of life
so bereitwillig hatte einlullen lassen. Lissabon war eine andere Welt. Die Hitze in ihrer stickigen Behausung, die engen Gässchen, in denen die alten
eléctricos
, die Straßenbahnen, fuhren, die rückständigen sanitären Einrichtungen, die Azulejo-verkleideten Gebäude und die Wäscheleinen vor den Fenstern – das alles erschien ihm jetzt so fremd und weit entfernt, als hätte er nur einen belanglosen Urlaub in Portugal verbracht und nicht jahrelang dort gelebt.
    Laura konnte er sich noch weniger gut vor Augen halten als Lissabon. Es gab Momente, da sah er sie deutlich vor sich, jedes Detail, als hätte er ihr eben erst einen Abschiedskuss gegeben. Doch meistens gelang es ihm nicht, ihr Bild heraufzubeschwören – und er versuchte es auch immer seltener. Es war viel geschehen in der Zwischenzeit. Und für junge Menschen wie sie waren fünf Jahre ohne physischen Kontakt einfach unüberwindbar. Sicher hatte auch sie jemanden kennengelernt – warum sonst war sie nie nachgekommen nach Amerika? Oft genug darum gebeten hatte er sie schließlich. Und am Geld konnte es nicht liegen, sie schien sich ja als Laura Lisboa ganz gut durchzuschlagen.
    Bestimmt hatte sie Verständnis, wenn er ihr von der bevorstehenden Hochzeit mit Elsa schrieb. Ja, wahrscheinlich würde sie sich sogar mit ihm freuen und ihm von ganzem Herzen alles Gute wünschen.
     
    Laura hatte die weltpolitischen Ereignisse des Jahres 1945 mit einer frohen Ungeduld verfolgt, seit der deutsche Diktator im April Selbstmord begangen hatte. Land in Sicht! Licht am Ende des Tunnels! Jetzt würde es nicht mehr lange dauern, bis der furchtbare Krieg zu Ende war und sie Jakob endlich wiedersehen würde. Und tatsächlich: Nach der bedingungslosen Kapitulation der Deutschen im Mai war der Weltkrieg offiziell vorbei, wobei es dann noch bis August dauerte, bevor endgültig Schluss war. Mit dem Abwurf der ersten beiden Atombomben über Hiroshima und Nagasaki hatten die Amerikaner nicht nur die Welt geschockt, sondern auch eindringlich ihre Stärke unter Beweis gestellt.
    Kurz nachdem Laura und Ricardo aus ihrem Badeurlaub zurückkehrten, den sie in der Algarve verbracht hatten, setzte Laura sich hin und nahm allen Mut für den längst überfälligen Brief an Jakob zusammen. Es war September und noch sommerlich warm. Sie war braun gebrannt, und anstatt sich auf das weiße Blatt Papier zu konzentrieren, das vor ihr lag, strich sie selbstverliebt über die gebleichten Härchen auf ihren bronzefarbenen Unterarmen. Sie schob den Ehering an ihrem Finger hin und her, weil sie sich an der weißen Haut darunter gar nicht sattsehen konnte und weil es sie freute, dass der Ring nun bald zu Recht an ihrer Hand stecken würde – bisher hatte sie ihn nur getragen, damit sie, vor allem aber ihr Sohn, von hässlichem Gerede verschont blieb. Außerdem erfüllte es sie mit Befriedigung, dass der Ring so locker saß. Sie hatte abgenommen, das war gut. Eine Demütigung von der Art, wie sie sie vor dem Urlaub von ihrer Mutter hatte hinnehmen müssen, wollte sie nicht noch einmal erleben. Ihre Mutter hatte ihr ein Kleid schenken wollen, sie hatte abgelehnt. »Na ja, es passt dir wahrscheinlich sowieso nicht«, hatte ihre Mutter gesagt und das sehr elegante Leinenkleid auf den Haufen mit den Sachen geworfen, die sie weggab.
    Immer wieder sah Laura aus dem geöffneten Fenster. Auf dem Tejo glitten Schiffe vorbei, Fähren schlüpften zwischen den größeren Kähnen hindurch. Der Himmel war von einem intensiven Blau, die Luft roch nach Sommer. Von der Straße hörte sie Gehupe, Reifen- und Bremsenquietschen sowie das Gedröhne von überforderten Autos, wenn

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