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So weit der Wind uns trägt

So weit der Wind uns trägt

Titel: So weit der Wind uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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sich von Jujús Kommen nicht ablenken. Hochkonzentriert bastelte er an einem Papierflieger, der mit einem »plumpen Wurfgeschoss« nichts gemein hatte. Die Fingerfertigkeit des Jungen hinkte seinen geistigen Kapazitäten zwar eindeutig hinterher, dennoch fand Jujú das Flugobjekt außergewöhnlich raffiniert für ein so kleines Kind. Ricardo hob seinen Flieger an und warf ihn in Jujús Richtung. Er traf sie am Bauch, und der Kleine begeisterte sich so sehr darüber, dass er mit seinen angewinkelten Ärmchen flatterte, als wäre er selber ein Vogel, der abheben will. Er sah sie freudestrahlend an. In seinen bernsteinfarbenen Augen funkelten grüne Sprenkel.
    Der Schreck fuhr Jujú derartig in die Glieder, dass sie sich schwach auf den Beinen fühlte. Sie hielt sich am Türrahmen fest. Ihr Herz machte verrückte Sprünge. Sie sah die ganze Szenerie plötzlich wie in Zeitlupe. Den Jungen, der sie verunsichert anschaute, weil er nicht begriff, warum seine Oma sich nicht mit ihm freute. Den Papierflieger, der mit eingedrückter Schnauze vor ihr auf dem Boden lag. Und sich selber, wie sie in diesem Augenblick der Erkenntnis das Kind anstarrte, als käme es aus einer anderen Welt.
    Einer, die Fernando ihr niemals hatte erklären können.

30
    W ären die Umstände andere gewesen, hätte er sich voller Elan und Enthusiasmus in sein neues Leben gestürzt. So aber dauerte es eine Weile, bevor Jakob begann, sich für einen Glückspilz zu halten. Vier Jahre, um genau zu sein. Dann erkannte er plötzlich, wie gut er es getroffen hatte. Los Angeles war herrlich aufregend, modern, leichtlebig, oberflächlich und so ganz und gar anders als die europäischen Städte mit ihrer schweren Last aus Geschichte. Und jetzt, da viele von ihnen zerbombt waren, musste es dort noch viel trübsinniger aussehen. In Verbindung mit dem Wetter, das sich zumindest in den nördlicheren Regionen Europas allzu oft trist und kalt zeigte, vermochte er sich das Grauen gar nicht auszumalen. Und er wollte es auch nicht.
    Die Sonne schien. Die Farben leuchteten. Er hatte zunehmend Erfolg im Beruf. Er hatte eine wunderbare Freundin. Der Strand war Alltag, keine Urlaubsvision. Die Autos waren groß und bunt. Die Menschen waren groß und bunt gekleidet. Sie lachten häufig und laut. Sie hatten eine Vorliebe für süße Getränke und riesige Steaks. Anfangs war ihm das alles ein wenig irreal erschienen, als hätte er sich verlaufen und sich mit einem Mal am Set eines Films wiedergefunden, in einer zu grellen Kulisse, die von mächtigen Strahlern beleuchtet wurde und von Statisten bevölkert war, die die Anweisung hatten, andauernd zu lächeln und ihre unglaublich weißen Zähne zu entblößen.
    »Sie sind so«, hatte Elsa ihm erklärt. »Sie sind wie fröhliche, gesunde Kinder, denen man einen Hygienefimmel, nicht nur bei den Zähnen, anerzogen hat. Sie lieben Sport und frische Luft, sie sonnen sich in ihrer Cowboy-Vergangenheit und essen deshalb so gerne gegrilltes Fleisch und gebackene Kartoffeln. Wahrscheinlich bedauern es die Städter nur, dass sie nicht so ohne weiteres ein Lagerfeuer entzünden können. Aber das machen sie mit ihren gemauerten Barbecue-Öfen im Garten ja wett.«
    Jakob hatte gelacht über diese absichtlich vereinfachte Darstellung der Dinge, doch er hatte auch ein Körnchen Wahrheit darin entdeckt. Ein paar ihrer gemeinsamen Bekannten besaßen diese beneidenswerte Eigenschaft des unerschütterlichen Frohsinns und Optimismus. Alex Grey, ihr Vermieter, war so einer. Genau wie Peter Martin, der Autohändler, bei dem sie vor ein paar Monaten einen hellgrünen Chevrolet gekauft hatten. Ihr größtes Trauma war noch immer der Angriff auf Pearl Harbor, der exakt 2403 Amerikaner ihr Leben gekostet hatte und zudem schon vier Jahre zurücklag. Wer nicht gerade Söhne hatte, die in den Krieg zogen, für den war der ganze Horror sehr weit weg und äußerte sich höchstens im Hass auf die Japaner.
    Aber Amerika wäre natürlich niemals zu dem geworden, was es war, wenn es hier nicht alles an Menschen und Meinungen gegeben hätte. Sie hatten Schwermütige und Leichtsinnige kennengelernt, Intellektuelle und Geistlose, Gerissene und Naive, Laute und Leise, Sportfanatiker und Bücherwürmer, Hemmungslose und Gehemmte, Klassikliebhaber und Bebop-Fans, Ästheten und Banausen, Steak-Esser und Vegetarier, Naturbegeisterte und Asphaltpflanzen, Kommunisten und Kapitalisten – und zwar unter sämtlichen Rassen und Religionen, die sich hier in unglaublicher

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