So weit der Wind uns trägt
allerlei Alltagserlebnissen, amüsanten, denkwürdigen, traurigen. Er erzählte von seiner Schwester Esther, die mit ihrem orthodoxen Schneider nach Israel gezogen war. Er gab Anekdoten aus der Emigrantenszene in Kalifornien zum Besten, lobte sich selber für seinen guten Riecher bei Aktien, lästerte über Kollegen und plauderte in selbstironischem Ton über seine Bewunderung für den Lebensstil der Amerikaner. All das erschien Laura wie der armselige Versuch, vom eigentlichen Thema abzulenken, es in so viel Watte zu packen, dass man es beinahe übersehen hätte.
Lauras Enttäuschung schlug in Wut um, als sie die entscheidende Passage las.
Elsa und ich werden nächste Woche heiraten – das heißt, wenn dieser Brief bei Dir eintrifft, sind wir wahrscheinlich schon unterwegs nach Nassau, wo wir unsere Flitterwochen verbringen.
Der Satz war eingeklemmt zwischen einer Schilderung der üppigen Angebote amerikanischer
supermarkets
– noch etwas, was es in Europa nicht gab –, und der Beschreibung all der landschaftlichen Schönheit, die laut Reiseführer auf den Bahamas vorzufinden war. Laura hätte schreien können. Ein sechsseitiger Brief, voll mit einem Schwall von Banalitäten und diesem einen Satz, der ihr das Herz zerriss. Und der ihr, wäre sie bei klarem Verstand gewesen, gesagt hätte, dass Jakob durchaus ein schlechtes Gewissen hatte, weil er sonst wohl kaum so auffällig unauffällig über seine Hochzeit gesprochen hätte.
Ihre Briefe mussten sich überkreuzt haben. Na, da würde Jack, wie er sich jetzt lächerlicherweise nannte, aber Augen machen, wenn er aus seinem
honeymoon
zurückkehrte. Und wie Mrs. Jack Waizman erst gucken würde! Diese Vorstellung tröstete Laura ein wenig über den Verlust von Jakob hinweg, der, wie sie es sich erst sehr viel später eingestehen konnte, schleichend gekommen war und nicht so urplötzlich, wie sie es sich in ihrer ersten Erschütterung einredete. Im Grunde hatten sie einander schon vor Jahren verloren. Sie waren einander fremd geworden. Der alte Jakob existierte nicht mehr. Und den neuen Jack mochte Laura nicht.
Sie verbrannte den Brief und nahm sich vor, in den kommenden Wochen keinen Telefonanruf anzunehmen.
Jack Waizman kam gut erholt und voller Schwung aus dem zweiwöchigen Urlaub zurück. Er hatte unzählige neue Ideen im Kopf und wollte diese, bevor sie ihm wieder entfleuchten, schnell niederschreiben. Er begab sich in sein Studio, das im Keller ihres Hauses in Santa Monica lag, und arbeitete mit einer Energie und Hingabe, wie er sie schon lange nicht mehr gespürt hatte. So ein Tapetenwechsel war die reinste Wunderdroge! Die Kompositionen flossen ihm aus der Feder, dass es eine Freude war, und es waren allesamt Stücke, die fröhlich und sonnig klangen. Jack wusste, dass diese Musik den Geschmack der Amerikaner treffen würde. Es war genau das, was er sich immer zu komponieren gewünscht hatte, was ihm aber offenbar aufgrund einer inneren Sperre nie gelungen war. Bei dieser Reise hatte sich der Knoten gelöst.
Elsa freute sich über den Schaffensdrang ihres Mannes. Sie führte ihn auf die positive Wirkung der Eheschließung zurück. Sie waren schon seit Jahren ein Paar, doch lange hatte Jack gezögert, sich so endgültig zu binden. Er war noch immer mit einem Fuß in Europa gewesen, hatte an die Frau gedacht, die er in Portugal zurückgelassen hatte, an die Eltern, die in einem Konzentrationslager ermordet worden waren. Erst in dem Moment, in dem er vor dem Kaplan »Ja« sagte – auf eine Hochzeit nach jüdischem Ritual hatten sie bewusst verzichtet –, hatte er diese Vergangenheit abgestreift und sich der Zukunft zugewandt. Elsa war glücklich. Das Einzige, was ihr Glück ein wenig trübte, war, dass sie bereits am Tag nach ihrer Rückkehr in ihre Firma musste, um für einen erkrankten Kollegen einzuspringen. Eigentlich hätte sie noch eine Woche länger freigehabt, in der sie sich ihrem Haus widmen wollte, der Beantwortung der Glückwunschkarten und ähnlichen Dingen. Es wäre schön gewesen, den Einzug der Normalität in ihr Eheleben etwas mehr zu zelebrieren. So aber blieb die Post, die sich während ihrer Abwesenheit angesammelt hatte, noch tagelang in einem vorwurfsvollen Haufen auf der Flurkommode liegen, den sie beide geflissentlich ignorierten – in der Hoffnung, der jeweils andere würde sich dessen erbarmen. Na ja, auf einen Tag mehr oder weniger kam es jetzt auch nicht mehr an.
Erfahrungsgemäß war sowieso nie etwas Wichtiges
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