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So weit der Wind uns trägt

So weit der Wind uns trägt

Titel: So weit der Wind uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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sie sich die steilen Nebenstraßen hinaufquälten. Sie war nicht in der Stimmung, einen Brief zu schreiben. Ihr fiel beim besten Willen nicht ein, wie sie Jakob die »Neuigkeit«, die schon vier Jahre alt war, beibringen sollte. Eher beiläufig?
Ach übrigens, bevor ich es vergesse: Wir haben einen gemeinsamen Sohn.
Melodramatisch? Kühl? Um Verzeihung bittend? Anklagend? Weinerlich? Heiter? Nein, welche Herangehensweise sie sich auch ausdachte, nichts schien wirklich zu passen. Außer …
    Laura sprang mit einem Satz auf, schnappte sich ihren Skizzenblock sowie ein paar Kreiden und lief in das Zimmer von Ricardo. Der Junge war völlig versunken in ein Buch, dessen Bilder er aufmerksam studierte, als läge dahinter ein wichtiges Geheimnis verborgen. Er sah nur kurz auf, als Laura den Raum betrat, und erforschte dann weiter die Geheimsprache der Abbildungen, die sich nur ihm erschloss.
    Laura setzte sich auf das kleine Bett. Sie sah Ricardo von dort aus im Profil. Der Lichteinfall war perfekt.
    »Malst du ein Bild? Von mir?«
    »Ja, Kleiner. Aber nur, wenn du nichts dagegen hast.«
    »Nein. Darfst du. Kann ich das Bild dann behalten?«
    »Ich würde es gern verschenken. Aber ich male dir gern ein eigenes.«
    Der Junge schien kurz nachzudenken und schüttelte den Kopf. Dann widmete er sich wieder seinem Buch.
    Laura war ratlos. Solche Dinge tat er ständig, und sie wusste nie, was genau er meinte. Jetzt zum Beispiel: Wollte er nun doch nicht gemalt werden? Oder hatte er vielleicht beschlossen, dass er sein eigenes Porträt nicht brauchte? Egal, dachte sie. Immerhin hatte er nicht gefragt, für wen das Bild denn gedacht war. Sie legte den Block auf ihre Knie und zeichnete. So saßen sie etwa eine halbe Stunde da, der Sohn vertieft in sein Buch, die Mutter vertieft in ihre Arbeit. Sie boten einen Anblick schönster Harmonie.
    Als Laura ihre grobe Zeichnung fertig hatte, erhob sie sich, um möglichst lautlos das Zimmer zu verlassen. Sie stand bereits an der Tür, als Ricardo forderte: »Zeig es mir!«
    »Bitte. Zeig es mir,
bitte

    »Ja, bitte.«
    Sie zeigte es ihm. Er betrachtete es mit weit weniger Interesse als die läppischen Illustrationen seines Kinderbuchs. Er wandte den Blick ab, und Laura war heilfroh, dass die Frage, auf die sie gewartet hatte, nicht mehr kam. Sie versuchte die Tür möglichst lautlos hinter sich zu schließen, als sie ihn in letzter Sekunde doch noch fragen hörte: »Mãe?«
    »Ja, mein Kleiner?«
    »Für wen ist denn das Bild?«
    »Für einen alten Freund von mir.«
    Der Junge schien sich mit dieser Antwort zufriedenzugeben, denn in den folgenden Stunden, während Laura mit jeder Silbe ihres allzu lange aufgeschobenen Briefes kämpfte, hörte sie keinen Mucks mehr von ihm. Es war bereits dunkel, als Laura endlich eine Version fertig hatte, die sie für vertretbar hielt.
    Lissabon, 16 . September 1945
    Mein lieber Jakob,
    Du wirst bereits das Geschenk aus der Papprolle geangelt haben – anstatt, wie es wohlerzogene Menschen tun, zuerst den Begleitbrief zu lesen. Ich lächle, während ich mir das vorstelle, und Du wirst lächeln, während Du diese Zeilen liest. Du wirst Dich insgeheim ertappt fühlen.
    Du wirst Dich ebenfalls gefragt haben, wieso ich Dir das Porträt eines Kindes schicke, ein Bild, das, wie Du wohl zu erkennen vermagst, nicht gerade als ein Chef d’Œuvre von Laura Lisboa bezeichnet werden kann. Nun, ich habe es in nur einer halben Stunde angefertigt, heute Nachmittag, hier bei mir in der Wohnung.
    Es zeigt unseren Sohn. Ricardo.
    Jetzt wirst Du nicht mehr lächeln. Du wirst Dir 1000 Fragen stellen, und Du wirst schon jetzt, noch bevor Du zu Ende gelesen hast, nach dem Telefon greifen. Was soll ich sagen? Es tut mir nicht leid.
    Ich habe Dir zu Deinem eigenen Schutz meine Schwangerschaft verschwiegen. Wie hätte ich ahnen können, dass es so lange dauert, bis der Krieg endgültig vorbei ist? Dir jetzt, nachdem wir uns fünf Jahre nicht mehr gesehen haben, von einem Kind im fernen Europa zu erzählen, kommt mir mindestens ebenso verrückt vor, wie Dir diese Nachricht erscheinen muss.
    Ricardo ist ein wunderbares Kind, hochintelligent und hübsch (wie hätte es anders sein können?). Er ist vom Wesen eher still, introvertiert. Sicher wird er einmal ein großer Philosoph oder Dichter. Ach, es gibt so unendlich viele Dinge, die ich Dir über ihn erzählen muss, dass mein Papier und die Tinte dafür gar nicht ausreichen. Vielleicht sollte ich Dir jetzt doch erlauben, zum

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