So weit der Wind uns trägt
dabei.
31
R onaldo Silva ging schwankend von Bord der »Sant’Ana«. So hatte er sich das eigentlich nicht vorgestellt. Von einer triumphalen Ankunft hatte er geträumt, von der Euphorie, die ein Neubeginn mit sich bringt, von Glücksgefühlen und einem optimistischen Kribbeln im Bauch. Portugal, ich komme! Aber nein: Sie waren die letzten drei Tage durch stürmische See gefahren. Ronaldo fühlte sich schwach auf den Beinen, noch immer war ihm flau. Wenn wenigstens die Sonne geschienen hätte. Aber ein böiger Westwind peitschte über den Tejo, und Regen verhüllte die Sicht auf Lissabon.
Er musste sich mit beiden Händen am Geländer der Gangway festhalten, um nicht zu stürzen. Sein Seesack, den er sich über die Schulter geworfen hatte, rutschte die ganze Zeit nach vorn, so dass er ihn mit dem rechten Ellbogen daran hindern musste, herunterzufallen. Als er endlich festen Boden unter den Füßen und die Hände wieder frei hatte, um den Seesack an Ort und Stelle zu halten, überkam ihn dennoch keine Erleichterung. Noch immer hatte er den Eindruck, als befände er sich auf See. Die Erde schien sich im selben Rhythmus zu heben und zu senken wie die hohe Dünung des Atlantiks es mit der »Sant’Ana« gemacht hatte. Ihm war schwindelig. Ronaldo beschloss, sich ein Taxi zu gönnen – nicht, weil seine Reisekasse so üppig bestückt gewesen wäre, sondern weil ihm so elend zumute war, dass er sich das Theater, das die Suche nach dem richtigen Bus mit sich gebracht hätte, ersparen wollte.
Der erste leibhaftige Lisboeta, mit dem er es zu tun hatte, war der Taxifahrer. Obwohl Ronaldos Stimmung auf dem Tiefpunkt war, hätte er beinahe laut gelacht über den Akzent des Mannes. Ha, das war ja wie in den Witzen, die man sich in Brasilien über die Portugiesen erzählte! Ob er ihn zu einem günstigen Hotel bringen könne, bat er den Fahrer, möglichst in der Nähe von Lapa. Diesmal war es an dem
taxista
, aufzulachen.
»Senhor, ich fürchte, dass die Sorte von Unterkunft, die Sie suchen, in diesem Stadtteil nicht zu bekommen ist. Lapa ist das Diplomatenviertel.«
»Na dann eben eine Pension in einem angrenzenden Viertel. Irgendwo hat die Diplomatie ja mal ein Ende.«
Der Mann fuhr ihn schließlich zu einer Pension in Campo de Ourique. Es war die Art von Herberge, die Ronaldo am meisten verabscheute, mit einer neugierigen, selbstgerechten Wirtin und strengen Regeln. Aber das Zimmer war sauber und preiswert, so dass er fürs Erste dort bleiben würde. Bald, dachte er, schon sehr bald muss ich mich vor niemandem mehr rechtfertigen, wenn ich zu spät heimkomme oder die Essenszeiten verpasse oder Damenbesuch empfangen möchte. Wobei er Letzteres ohnehin für ausgeschlossen hielt: Alle Frauen, die Ronaldo bisher in Lissabon gesehen hatte, waren verwachsen, hatten einen Damenbart oder beides.
Ein degeneriertes Volk war das, wenn man ihn fragte. In Brasilien sahen die Menschen einfach schöner aus, da hatte unter Weißen, Schwarzen, Indios und asiatischen Einwanderern die schönste Durchmischung stattgefunden und atemberaubende Ergebnisse hervorgebracht. So wie ihn selber.
Ronaldos Vater war Portugiese, seine Mutter Mulattin, die wiederum aus der Verbindung zwischen einem blauäugigen Schwarzen und einer milchkaffeebraunen Schönheit halb indianischer Abstammung hervorgegangen war. Ronaldo hatte das Beste von allen Vorfahren mitbekommen. Die Augenfarbe des Zwanzigjährigen changierte zwischen Grau und Hellbraun, je nach Sonneneinstrahlung waren auch ein paar blaue Tupfer auszumachen. Seine Haut hatte einen karamellfarbenen Ton und war samtig-glatt wie die eines Babys. Er war hochgewachsen, mit langen Beinen, schmalen Hüften, breiten Schultern und einem knackigen Hinterteil, das schon so manche Frau verleitet hatte, hineinzukneifen. Sein Haar war schwarz, weich und lockig und verriet kaum etwas von seinem afrikanischen Blut.
Gut so, dachte Ronaldo. Wenn schon in Brasilien der Rassismus so stark ausgeprägt war, wie musste es sich dann erst in Portugal verhalten? Er hatte nicht die geringste Lust, als
negro
diskriminiert zu werden. Aber die Gefahr bestand auch nicht. Sein Aussehen war zwar exotisch, ließ sich jedoch durch alle möglichen Kreuzungen erklären – er hätte ebenso gut Abkömmling eines Arabers und einer Inderin sein können. Zugegeben, das war kaum besser als seine echte Herkunft. Ach, egal. Mit genügend Geld konnte man jede Hautfarbe aufhellen – zumindest in den Augen seines Gegenübers. Und Geld
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