So weit der Wind uns trägt
dass alle anderen vor Staunen wie gelähmt waren, und hatte selber die Initiative ergriffen. Da sah man wieder einmal, wie wichtig eine gute Kinderstube war. Nur »Cousin« hätte sie ihn nicht unbedingt nennen müssen. Es brachte sie alle in eine unbehagliche Lage. Sollten sie den jungen Mann jetzt duzen, wie man es bei Verwandten nun einmal tat, oder siezen, wie es einem Fremden gegenüber angemessener wäre?
»Danke, sehr gern«, antwortete Ronaldo. Seine Stimme war tief und sanft, und mit dem charmanten brasilianischen Akzent erzeugte sie bei den anwesenden Damen die schönste Gänsehaut. Er setzte sich auf den ihm zugewiesenen Platz zwischen Fernando und Elisabete und hob das Portweinglas, das ein eifriges Dienstmädchen bereits vor ihn gestellt hatte: »Ich freue mich sehr, heute Abend hier sein zu dürfen. Es tut so gut zu wissen, dass man eine … Familie hat.«
Elisabete konnte einen Schauder nicht unterdrücken.
Familie?
Das war dann doch ein wenig übertrieben. Fernando verschluckte sich beinahe an seinem Wein, fing sich aber, bevor irgendjemand auch nur bemerkt hatte, dass er einmal einen Moment lang nicht unerschütterlich und kaltblütig gewesen war. Teufel auch, der Knabe trug ganz schön dick auf. Maria da Conceição hatte vor Rührung feuchte Augen bekommen. Familie war für sie das Wichtigste auf der Welt, und sie war froh, dass ihr hübscher Neffe dies bereits in so jungen Jahren begriffen hatte.
»Hatten oder haben Sie denn in Brasilien keine Familie?«, fragte jetzt Marcos. Es entging niemandem, dass er die formellere Anrede gebraucht hatte.
»Oh doch.« Und dann begann Ronaldo zu berichten: von seiner Mutter, deren Großmutter noch eine Sklavin gewesen war; von seinen sieben älteren Geschwistern, die als Fischer, Bauern und Handwerker in das große Land hinausgeschwärmt waren, um ihr Glück zu finden; von seinem Vater, der ihm früher herrliche Geschichten über das Leben im Alentejo erzählt hatte; und über seine Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen, die eine viel dunklere Hautfarbe hatten als er und sich als
candomblé
-Anhänger mit den dunklen Mächten auskannten, die im Himmel und auf Erden walteten. Ronaldo schmückte seine Erzählung mit den abenteuerlichsten Details aus. Da war die Rede von Schlangen, die er mit der Machete erlegt hatte, und von herabfallenden Kokosnüssen, von denen eine seine Cousine dritten Grades das Leben gekostet hatte. Er beschrieb die turbulenten Karnevalsumzüge in den Straßen von Salvador da Bahia und die geheimnisvollen Zusammenkünfte am Strand zu Ehren der Meeresgöttin Iemanjá.
Ronaldo war kaum zu bremsen in seinem Redefluss, und seine Zuhörer dankten es ihm mit gespannten Mienen, überraschten Ausrufen –
nein, wirklich?!
– sowie damit, dass sie das vorzügliche Essen auf ihren Tellern kaum beachteten, was wiederum die Köchin, die zusammen mit dem Dienstmädchen und dem Butler José im Nachbarraum lauschte und den einen oder anderen Blick durchs Schlüsselloch wagte, als grobe Beleidigung empfand.
»Schade, dass Isabel das nicht miterlebt«, seufzte schließlich Ana, als Ronaldo eine Pause einlegte, um sich zwischendurch einen Bissen
bacalhau à brás
einzuverleiben.
Ronaldo schaute das Mädchen fragend an.
»Sie ist unsere älteste Schwester. Sie hat letztes Jahr geheiratet und lebt jetzt in London.«
»Ja, Isabel hat etwas übrig für gelungene Vorstellungen wie diese. Sie sind doch Schauspieler, nicht wahr?« Ausgerechnet Marcos, der sonst so schüchtern und immerzu darauf bedacht war, bloß niemanden zu brüskieren oder zu kränken, zeigte sich plötzlich von seiner kritischsten und kratzbürstigsten Seite. Vielleicht, dachte Fernando, waren seine Kinder nicht ganz so missraten, wie er geglaubt hatte. Sein Junge besaß offensichtlich mehr Verstand und auch mehr Mumm, als er ihm zugetraut hatte. Vielleicht würde doch noch etwas aus ihm werden – bestimmt gab es auch für technische Idioten mit Flugangst Berufe, die nicht gar zu weibisch waren.
»Ja«, antwortete Ronaldo, »das bin ich.« Nach einer kleinen Kunstpause sprach er mit Betroffenheit in der Stimme weiter. »Ich verstehe, dass ich hier mit Misstrauen beäugt werde. Ich würde umgekehrt dasselbe tun. Ich erwarte nicht, dass ich mit offenen Armen empfangen werde. Aber ich wünsche mir, und zwar von ganzem Herzen, dass man mich anhört, dass man mir die Chance gibt, Anschluss an einen Teil der Familie zu finden, den mein Vater einst auf schmähliche Art und Weise
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