So weit der Wind uns trägt
war es für Sie ja ein rundum gelungener Tag.« Laura sah Felipe spöttisch an.
»Oh, das war es. Ihre Bekanntschaft zu machen hat mich sowohl für die grässlichen Bilder als auch für die unverdaulichen Kekse von Tante Bárbara mehr als entschädigt.«
Das alles hatte sich vor einem knappen Jahr zugetragen. Seit fünf Monaten waren Laura und Felipe ein Paar. Und seit vier Monaten lebte Laura deshalb nun auf Belo Horizonte, im Haus ihrer Tante Mariana, rund 80 Kilometer von Évora entfernt. Das Angebot Felipes, zu ihm zu ziehen, war ihr etwas voreilig erschienen – genau wie sein Heiratsantrag.
Das Leben auf Belo Horizonte hatte einfach zu viele Vorteile. Es war reichlich Platz dort, so dass sie eine nicht mehr benötigte Scheune zu einem Atelier hatte umbauen lassen, mit Dachfenstern und einem Kamin. Es war außerdem die ideale Umgebung für ihren Sohn, der von Tante Mariana verwöhnt wurde und in den Kindern von deren Tochter Octávia nette Spielkameraden hatte. Und, das war mindestens genauso wichtig: Sie selber genoss es, inmitten von Menschen zu leben, die ihr dieselbe Zuneigung, wenn nicht gar Liebe schenkten, die sie auch füreinander empfanden. Es war das Beste an Familie, was Laura je besessen hatte, und sie würde es nicht leichtfertig aufgeben, um mit einem Mann zusammenzuziehen, der den ganzen Tag außer Haus war. So einsam wie einst im Internat wollte sie sich nie wieder fühlen.
Die Stimmung auf Belo Horizonte war merklich gestiegen, seit Tante Beatriz gestorben war. Die alte Hexe hatte bereits Laura sowie ihren Cousinen eine Heidenangst eingejagt, und bei ihren Kindern hatten die Gruselgeschichten vom Dachboden ebenfalls schon Wirkung gezeitigt. Ricardo traute sich als Einziger, dort hinaufzugehen, und das auch nur, so vermutete Laura, um seinen Makel als uneheliches Kind vor den anderen wettzumachen. Die Kinder ihrer Cousine Octávia – die anderen beiden Töchter Marianas waren weggezogen – bewunderten Ricardo für diese Kühnheit.
Dabei steckte weniger Mut dahinter als vielmehr das Wissen, dass Tante Beatriz nur ein gemeines Spiel getrieben hatte. Kurz vor ihrem Ableben hatte sie dem kleinen Ricardo, der anlässlich dieser Audienz vor Angst schlotterte, ins Ohr geflüstert: »Auf dem Dachboden spukt es gar nicht. Haha, alles von mir erfunden! Aber ein paar Geistern könntest du dort vielleicht begegnen. Dem deines Großvaters zum Beispiel.« Ricardo hatte die geheimnisvolle Botschaft nicht ganz verstanden, und er hatte auch nie jemanden nach ihrer Bedeutung gefragt. Ihm hatte sich einzig eingeprägt, dass der Speicher nicht gefährlich war – und dieses Wissen teilte er mit niemandem. Er würde sich einen solchen Vorteil den anderen Kindern gegenüber ja nicht kaputtmachen, indem er die Wahrheit herausposaunte.
Der 7 . Juni 1948 war ein wolkenloser, für die Jahreszeit ungewöhnlich warmer Tag. Schon kurz nach Sonnenaufgang wehte die Luft heißtrocken durch die Fenster, im Laufe des Tages würden die Temperaturen auf über 30 Grad steigen. Um genau 07 . 06 Uhr – Ricardo hatte immer ein großes Vergnügen an der Analogie zwischen Datum und Uhrzeit seiner Geburt gefunden – stand er im Esszimmer und schaute seine Angehörigen aus verschlafenen Augen an. Alle standen sie dort und brachten ihm ein Ständchen: Mamã,
avó
Mariana,
tia
Octávia,
tio
Inácio sowie deren Kinder Xavier und Sílvia. Es war Ricardos siebter Geburtstag, und dass sechs Personen für ihn sangen, betrachtete er als weiteres Indiz dafür, dass es mit der Sieben und der Sechs etwas Besonderes auf sich hatte.
Ein riesiger Berg Geschenke lag für Ricardo bereit, was ihn halbwegs mit der Tatsache versöhnte, dass ihm seine Mutter nicht erlaubt hatte, heute der Schule fernzubleiben. Am Nachmittag würde er dafür richtig feiern. Er hatte die Hälfte seiner Klassenkameraden eingeladen, Xavier und Sílvia brachten ihre besten Freunde mit, ein paar Kinder aus der Umgebung würden kommen und ein Haufen Verwandtschaft würde extra anreisen, unter anderem sein Onkel Paulo und seine echten Großeltern,
avó
Juliana und
avô
Rui, auf die er sich nur deshalb freute, weil sie viele Geschenke mitbrachten. Ansonsten flößten sie ihm Angst ein – Oma Juliana schaute ihn immer so merkwürdig an, dass es ihm kalt den Rücken herunterlief. Seine »falsche« Großmutter,
avó
Mariana, war ihm eigentlich lieber.
Laura wusste um die Bedeutung eines schönen Kindergeburtstages. Vielleicht, dachte sie, übertrieb sie es ein
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