So weit der Wind uns trägt
sich dort wesentlich besser umsetzen ließen als in Portugal. Er malte sich aus, wie er an literarischen Zirkeln teilnahm, Jazzkeller besuchte, in Philosophenkreise vordrang – und dort überall, ungeachtet seiner Jugend, mit seinem Intellekt und seinem Einblick in die Abgründe der menschlichen Seele Furore machen würde. Er stellte sich ebenfalls vor, wie er die Liebe kennenlernen würde, wie er sich in tiefsinnigen Gesprächen und ekstatischen Verrenkungen mit einer vergeistigten Schönheit vereinigen würde. Wo sonst wäre die Realisierung einer solchen Vision wahrscheinlicher als in der Stadt der Liebe?
Nur Jujú war zu Tode betrübt. Wenn nun auch noch Fernando sie verließ, war sie ganz allein. Nachdem Laura und Ricardo in den Alentejo zu Mariana gezogen waren, hatte sie ihr ganzes Leben an Fernando orientiert. Wenn er fortging, bliebe eine einzige Leere – denn von den drei Alternativen, die sich ihr boten, mochte sie keine in Betracht ziehen. Sie hätte erstens ebenfalls nach Belo Horizonte gehen können, aber dort würde sie sich nach so langer Zeit in der Stadt wahrscheinlich kaum noch in den Alltag einfügen können. Sie konnte zweitens nach Paris ziehen, doch das erschien ihr als zu aufdringlich, zu selbstverneinend. Eine gewisse Eigenständigkeit musste sich jede Frau bewahren. Drittens konnte sie sich fortan mehr ihrem jüngsten Enkelkind widmen, dem Erstgeborenen von Paulo. Aber sie wusste, dass Paulos Frau, eine selbstgerechte, erzkonservative und stockkatholische Frau aus spießbürgerlichen Verhältnissen, sie nicht ausstehen konnte. In deren Augen war sie eine amoralische Person, ein Relikt aus den freizügigen zwanziger Jahren – und Jujú hatte nicht die geringste Lust, sich bei ihrer grässlichen Schwiegertochter einschmeicheln zu müssen, um in den Genuss eines intensiveren Kontaktes zu ihrem Enkelkind zu kommen. Zwei Besuche pro Woche mussten reichen.
Was also blieb? Einzig die Hoffnung darauf, dass Fernando sie in Paris nicht vergessen würde und dass er bald wieder zurückkäme. Wie lange dauerten solche Einsätze? Na, irgendwann würde die Mission ja allein durch Fernandos Eintritt ins Rentenalter für ihn zu Ende gehen. Aber bis dahin wären es noch etwa sechs Jahre! Nein – ausgeschlossen! Also schön, dann würde sie eben ihre Liebe zu Paris wiederentdecken und mehrmals im Jahr dorthin reisen, Stolz hin oder her. Und eigentlich war es eine angenehme Vorstellung, wie in alten Zeiten in einem eleganten Grand Hotel zu residieren und, quasi auf neutralem Terrain, ihre einstige Leidenschaft wiederaufleben zu lassen.
Paulo da Costa hatte sich gemacht. Er war jetzt 28 Jahre alt. Die alten Verfehlungen waren vergessen, und nicht zuletzt durch die Hochzeit mit Fátima war es ihm gelungen, sich den Anstrich vollkommener Ehrbarkeit zu geben. Sein Schwiegervater hatte ihm eine schöne Position bei der Geheimpolizei PIDE ,
Polícia Internacional e de Defesa do Estado
, verschafft, so dass damit auch sein Vater mundtot gemacht worden war, der ständig über Paulos Unselbständigkeit genörgelt hatte. Natürlich verzichtete er nicht auf die Einkünfte, die ihm weiterhin aus dem väterlichen Unternehmen zuflossen – wie ein kleiner Beamter musste er ja nun wirklich nicht leben. Das Glück perfekt machte sein neugeborener Sohn, wenngleich Paulo weder das nächtliche Geschrei noch die untertassengroßen Brustwarzen seiner Frau als Bereicherung empfand. Nun, das eine würde sich mit der Zeit legen, und mit dem anderen musste er sich ja nicht begnügen.
Als Paulo eines schönen Herbsttages in seinem karg möblierten Büro in der Rua António Maria Cardoso saß, nur einen Katzensprung entfernt von der Wohnung seiner Mutter, schlug er, wie jeden Tag, als Erstes die Zeitung auf. Doch anders als sonst gab es diesmal außer der Sportseite etwas, was sein Interesse weckte. Sonst überblätterte er die anderen Seiten meist lustlos. Ihre Lektüre bereitete ihm nur insofern Vergnügen, als sie seine Arbeitszeit verkürzte und ihm das Gefühl vermittelte, wichtig zu sein. Auch war es nicht schlecht, beim Lesen des Wirtschaftsteils gesehen zu werden, wenn etwa andere Mitarbeiter sein Büro betraten, was allerdings nur selten der Fall war. Doch diesmal war er wirklich aufs äußerste gespannt, was in dem Artikel unter dem Foto stand, das ihn so aus seiner morgendlichen Trägheit gerissen hatte.
General Fernando Abrantes, las er dort, würde in Kürze nach Paris gehen, um dort dem Militärausschuss
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