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So weit der Wind uns trägt

So weit der Wind uns trägt

Titel: So weit der Wind uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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des Gebildes, die Feigenblätter seine Tragflächen, und die Gräser dienten der Befestigung der Konstruktion. Es sah vollkommen fluguntauglich und hässlich aus – doch das Objekt hatte eine größere Reichweite und bessere aerodynamische Qualitäten als jedes andere Flugzeug, das Ricardo je zuvor gebaut hatte. Vielleicht lag es auch an dem Wind, der seinen Strohhalm-Feigenblatt-Flieger so außergewöhnlich weit trug. Aber darüber würde er sich später Gedanken machen. Jetzt musste er sich erst einmal an den Gesichtern der Erwachsenen ergötzen, die seinem Objekt erstaunt nachsahen und dessen punktgenaue Landung mitten in der Keksschale bewunderten. Am lustigsten fand er den erschrockenen Ausdruck auf Oma Marianas Gesicht.
     
    Am selben Abend zogen sich die älteren Herrschaften frühzeitig zurück. Die mittlere Generation – Laura, Felipe, Paulo, Octávia und ihr Mann Inácio sowie die Nachbarn Alberto und Rosa Baião – amüsierte sich beim Kartenspiel, während die Kinder völlig überdreht im Dunkeln Verstecken spielten. Ab und zu hörte man einen schrillen Schrei oder ein geisterhaftes Huuuu von draußen. Laura schämte sich ein wenig dafür, dass die Baiãos so lange blieben. Sie wusste, woran es lag, und sie schätzte, dass auch Albertos Frau es wusste. Aber er fand und fand kein Ende, und je mehr er getrunken hatte, desto trauriger suchte er den Blickkontakt zu Laura. Sie wandte die Augen ab und überlegte, wie sie ihn elegant loswerden konnten. Wenn er weiter so viel trank, würden sie ihn nachher noch nach Hause, auf die »Herdade do Bom Sucesso«, tragen müssen.
    Im Obergeschoss bekam man von diesen Nöten der jüngeren Leute nichts mit. Hier focht man die eigenen Kämpfe aus. Rui hatte sich bereits zu Bett begeben, in dem er nun lag und unbehaglich darauf wartete, dass seine liebe Ehefrau sich zu ihm gesellte. Es waren nicht genügend Zimmer vorhanden, als dass sie jeder ein eigenes hätten bewohnen können, und es wäre den Gastgebern auch mehr als merkwürdig erschienen. Er wusste nicht, ob er würde schlafen können, wenn sie mit ihm in einem Bett lag. Aber solange er wartete, konnte er es erst recht nicht.
    Auf dem Flur hatte Mariana ihre Schwester beiseitegenommen und sie mit in ihr Zimmer geschleppt, in dem seit Octávios Tod jede Oberfläche mit Porträts von ihm zugestellt war.
    »Du musst es ihnen sagen.«
    »Wem was sagen?« Jujú wusste sehr wohl, was Mariana meinte.
    »Du musst Laura sagen, wer ihr Vater ist, damit die ihrem Sohn eines Tages sagen kann, wer sein Großvater ist. Und du musst es natürlich Fernando sagen.«
    »Wenn Ricardo erfährt, dass er nicht nur seinen leiblichen Vater nicht kennt, sondern auch sein Großvater ein anderer ist als der, den er bislang Opa genannt hat, dann wird er endgültig eine Macke kriegen. Er ist ja jetzt schon ein Außenseiter. Ich kann das nicht tun.«
    »Dann überlass Laura die Entscheidung. Ihr musst du auf jeden Fall die Wahrheit sagen. Und stell dir nur Fernandos Gesicht vor, wenn er erfährt, dass ihr eine gemeinsame Tochter und sogar ein Enkelkind habt.«
    »Genau das tue ich ja, Mariana. Ich stelle mir Fernandos Gesicht vor, wenn ich die Beichte meines Lebens ablege. Und die Vorstellung behagt mir überhaupt nicht. Du scheinst zu glauben, dass er sich darüber freut. Ich dagegen glaube, dass er mich hassen wird. Nenne es Egoismus, aber ich will nicht die letzten Jahre meines Lebens vor Gram darüber vergehen, dass der einzige Mann, den ich je geliebt habe, mich verabscheut.«
    »Erstens bist du erst 56 , ein paar Jährchen bleiben dir noch. Zweitens solltest du dir ebendiese Jährchen nicht mit weiteren Lügengebilden verderben. Siehst du denn nicht, Jujú, dass du immer nur dir selber schadest, wenn du glaubst, andere vor Schaden bewahren zu müssen? Du bist in Wahrheit nicht egoistisch
genug

    »Mariana, ich weiß, dass du es gut mit mir meinst. So wie du es ja mit allen gut meinst – Laura und Ricardo fühlen sich bei dir schon mehr zu Hause als bei mir. Aber lass mich das selber entscheiden. Tu mir den Gefallen und misch dich nicht ein.«
    »Keine Bange, diese Lektion habe ich gelernt. Das letzte Mal, als ich Glücksfee spielen wollte, hast du mir mit deiner Reaktion die Verlobungsfeier ruiniert.«
    Die beiden Schwestern sahen einander ernst in die Augen. Jujú schmunzelte als Erste. Dann verzog Mariana bei der Erinnerung an das katastrophale Fest die Lippen zu einem bedauernden Lächeln. Jujú gab einen grunzenden Laut von

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