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So weit der Wind uns trägt

So weit der Wind uns trägt

Titel: So weit der Wind uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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Portugal zurück?«, hatte João Carlos ungläubig gefragt, und Ricardos Gedanken kreisten sogar noch Wochen später um genau diese Worte.
    Ja, warum ausgerechnet Portugal?

46
    P ortugal war nach der dreiundreißig Jahre andauernden Diktatur von António Oliveira Salazar international isoliert. Es gehörte wirtschaftlich zu den Schlusslichtern Europas. In ländlichen Regionen betrug der Anteil der Analphabeten an der Bevölkerung bis zu 75 Prozent. Wie in jedem Entwicklungsland ging es der Oberschicht blendend, während die Arbeiter und Bauern unter der Armut und dem niedrigen Lebensstandard litten. In den vergangenen zehn Jahren hatten fast eine Million Portugiesen ihr Land verlassen. Einzig die Industriestandorte Lissabon und Porto waren von diesem Massenexodus nicht ernsthaft betroffen. Die Provinz hingegen blutete aus. Und wer sich jetzt, im Jahr 1969 , eine Verbesserung der Verhältnisse erhoffte, wurde enttäuscht. Zwar war Salazar nach einem Schlaganfall im vergangenen Jahr nicht mehr der Regierungschef, doch sein totalitärer Estado Novo, sein »Neuer Staat«, lebte in seinem Sinne fort.
    Es war zwar ungewöhnlich, dass Leute vom Schlag einer Laura da Costa und eines João Carlos Carneiro, beide aus begüterten Verhältnissen und beide gebildet, weit gereist sowie kultiviert, einen Lebensstil pflegten, wie er moderner und freizügiger kaum sein konnte – aber solange sie nicht offen gegen das Regime rebellierten, war es durchaus möglich. Es war, als existierten in Portugal zwei parallele Welten nebeneinander, die einander fremder nicht hätten sein können. Auf der einen Seite stand die Masse der Bevölkerung, die bewusst dumm und stumm und katholisch gehalten wurde und die zum Teil in Verhältnissen lebte, wie sie auch im Mittelalter kaum besser gewesen sein konnten. Auf der anderen Seite gab es eine kleine Schicht von Leuten, denen das Regime zu zahlreichen Privilegien verholfen hatte und die ein entsprechendes Interesse daran hatten, dass alles so blieb, wie es war. Diese Leute waren dieselben, die sich selber am wenigsten an die von oben diktierten Werte hielten.
     
    Marisa fand diese Zweiklassengesellschaft empörend. Sie fand es noch empörender, dass weiterhin jede Opposition unterdrückt wurde, dass Presse- und Meinungsfreiheit Fremdwörter im Sprachschatz der Regierung waren und dass den Menschen der Zugang zu fortschrittlichem Gedankengut verwehrt wurde. Verdammt, sie lebten im Jahr 1969 ! Es gab Mondraketen, immer raffiniertere TV -Übertragungswege und immer leistungsfähigere Computer – und Portugal hielt stur an seiner Kolonialpolitik fest, die dem Denken der Frührenaissance entsprach! Es war unfassbar, was hier passierte! Die wenigen jungen Männer, die sich noch keine Arbeit im Ausland gesucht hatten, wurden nach Angola, Mosambik und Guinea geschickt, um einen aussichtslosen, wahnwitzigen Krieg zu führen, an den sie selber nicht glaubten. Es blieb ja praktisch kaum mehr einer im Land, der sich gegen das Regime auflehnen konnte.
    Aber war es, fragte sie sich in Momenten, da sie nicht von gerechter Empörung beseelt war, tatsächlich ihr politisches Engagement, das sie zurück nach Portugal geführt hatte? War es nicht vielmehr eine Verbundenheit mit ihrer Heimat, wie sie sie weder in Frankreich noch in England je gespürt hatte? War sie in Wirklichkeit eine hoffnungslose Romantikerin? Eine
reaktionäre Aktivistin
, wie ihr Freund Cristiano es ausdrückte? Ach, was verstand der schon von den komplizierten Abläufen im Kopf einer Frau? Cristiano hielt jeden für reaktionär, der sich ein schickes Möbelstück kaufte – wahrscheinlich, weil er sich ein solches nicht leisten konnte. Dafür, dachte Marisa, lungerte er ausgesprochen gern in ihrem
reaktionären
Lieblingssessel »Elda« herum, einem futuristischen Entwurf von Joe Colombo, bestehend aus einer weißen, drehbaren Kunststoffschale und dicken, schwarzen Lederpolstern. Ein Möbel, das feine Ironie mit hohem Komfort verband, eine Art Ohrensessel für ein modernes Ambiente. Cristiano wusste gar nicht, worin er sich da lümmelte.
    Seit zwei Jahren lebte sie mit Cristiano in »wilder Ehe«, wobei von »wild« eigentlich keine Rede mehr sein konnte. Von »Ehe« dafür umso mehr, obwohl sich Marisa nach dem Desaster mit der abgesagten Hochzeit geschworen hatte, es nie wieder so weit mit einem Mann kommen zu lassen. Aber nun war es doch passiert, wenn auch ohne Trauschein. Ihre Beziehung begann langweilig zu werden. Cristiano fing an,

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