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So weit der Wind uns trägt

So weit der Wind uns trägt

Titel: So weit der Wind uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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Eine Weile sah es ganz danach aus, als würde dieser Streit die beiden Familien, Ana Marias und die ihres Mannes, entzweien. Doch irgendwie hatten sich die beiden Damen zusammengerauft – in der geteilten Entrüstung über das unmütterliche Verhalten Ana Marias.
    Sie selber fand ihre Entscheidung, ihren Beruf weiterhin auszuüben, heute noch genauso richtig wie damals. Ihr Sohn war zu einem prächtigen jungen Mann gereift, und das bewies ja, dass sie so unmütterlich nicht gewesen sein konnte. Inzwischen waren sowohl die beiden Großmütter als auch Ana Marias Mann verstorben, so dass Ana Maria erst recht froh war, in ihrem Beruf geblieben zu sein. Die Witwenrente hätte vorne und hinten nicht gereicht. Es war so schon knapp genug. Aber sie wollte sich nicht beschweren. Sie mochte ihre Arbeit. Sie kannte praktisch jeden in ihrem Zustellungsbezirk, hatte oft Gelegenheit zu einem Plausch und ließ sich sogar ab und zu, wenn die Zeit es zuließ und keinerlei Gefahr bestand, dass der Oberpostmeister davon erfuhr, zu einem
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überreden. Selbstverständlich nur zu besonderen Anlässen und nur kurz vor Feierabend. Wie hätte sie zum Beispiel den Castros, die diese Woche ihre goldene Hochzeit feierten, die Einladung abschlagen können, ein Gläschen auf ihr Wohl zu trinken?
    Natürlich gab es auch ärgerliche Vorkommnisse in Senhora Delgados Arbeitsalltag. Das Postauto war eines davon. Es sprang, besonders im Winter, nur nach qualvoll langem Orgeln an, weshalb Ana Maria es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, den Motor tagsüber immer laufen zu lassen. Auch wenn sie auf ein Viertelstündchen bei Bekannten weilte, blieb der Wagen an. Dass jemand auf die Idee kommen könnte, ihn zu entwenden, erschien ihr vollkommen abwegig. Weit wäre er damit nicht gekommen, ohne sich verdächtig zu machen, schließlich war der Anblick des alten Fords untrennbar mit dem von Ana Marias schmalem, strengem Gesicht verbunden.
    Ein weiteres Ärgernis, aber bei weitem nicht das schlimmste, waren Haustiere. Ana Maria zog die bissigen den freundlichen Hunden eindeutig vor. Die aggressiven Tiere wurden von ihren Besitzern meist an die Leine genommen, wenn die Postbotin sich mit Hupen oder Klingeln ankündigte. Die zutraulichen Hunde jedoch hatten die unerfreuliche Eigenschaft, Ana Maria überschwänglich zu begrüßen, an ihr hochzuspringen und ihre Uniform, die sie picobello in Schuss hielt, zu verschmutzen. Und ihre Besitzer schienen auf das heitere Temperament ihrer Tiere sogar noch stolz zu sein, so dass sie nicht daran dachten, sie von ihrem Tun abzubringen. Auch Katzen, die sich an ihrem Bein rieben, fand Ana Maria lästig.
    Aber lange nicht so lästig wie falsch adressierte Sendungen. Fehlende Hausnummern und unvollständige Postleitzahlen waren nicht so tragisch. Wenn die Namen der Empfänger sowie die Straße stimmten, wusste Ana Maria ohnehin, wo genau die Leute wohnten. Wenn jedoch sowohl die Namen der Leute als auch die der Straße und des Ortsteils falsch geschrieben waren, dann brauchte es allerhand Phantasie, um den richtigen Adressaten ausfindig zu machen. Und so etwas passierte öfter, als es ein normal intelligenter Mensch für möglich gehalten hätte.
    Ana Maria konnte nur immer wieder den Kopf über so viel mangelnde Sorgfalt schütteln. Wie in Gottes Namen konnte jemand erwarten, dass sie einen Brief an »Dona Angélica, Rua do Creio« zustellte, wenn der Nachname der betreffenden Dame fehlte und die Straße eigentlich »Rua do Correio« hieß? Allein ihrem Spürsinn war es zu verdanken, dass auch solche Post zugestellt wurde, und zwar so gut wie ausnahmslos. In ihrer gesamten sechsundzwanzigjährigen Laufbahn hatte sie genau zwei Briefe und ein Päckchen auch nach detektivischer Feinarbeit nicht abliefern können, und die waren aus dem Ausland gekommen, wie sowieso fast die meisten der unleserlichen oder fehlerhaft adressierten Sendungen. Ana Maria hatte gelernt, Post aus dem Ausland mit äußerstem Misstrauen zu behandeln, und einzig die schönen exotischen Briefmarken hatten ihr noch nicht gänzlich den Spaß daran genommen, sie auszutragen.
    Auch heute waren mehrere ausländische Briefe dabei. Wie immer kamen die meisten aus den portugiesischen Kolonien in Afrika. Post von der Front. Ana Maria gab sie persönlich bei den Müttern der Soldaten ab, die sie alle kannte, und sagte ein paar mitfühlende Worte. Ihr eigener Sohn war, dem Herrgott sei Dank, vorletztes Jahr wohlbehalten zurückgekehrt, und sie

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